Log Line

Die junge Frau im Zentrum dieser französischen Komödie hat ein Problem mit ausgetretenen Pfaden. Im Zickzackkurs umschifft sie Alltagspflichten und Hindernisse auf der Suche nach dem unbekannten Glück. Als es sich vor ihren Augen abzuzeichnen beginnt, entwickelt sie eine neue Zielstrebigkeit.

Der Sommer mit Anaïs (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Quecksilbrig zu neuen Ufern

Es dauert eine Weile, bis der flippige Eindruck, den diese junge Frau erweckt, beim Zuschauen keinen Stress mehr auslöst. Anaïs (Anaïs Demoustier) kommt oft zu spät, hört ihrem jeweiligen Gegenüber kaum zu, breitet aber ausgiebig ihre eigenen Geschichten aus, nur um dann wieder zur nächsten Verspätung zu eilen. Schon allein die Passage, in der sie mit dem Fahrrad in einen Fahrstuhl steigen will, aber dies nur in Begleitung eines Menschen – wegen ihrer Klaustrophobie – und dann doch ohne Fahrrad wieder aussteigt, um schließlich die Treppe zu nehmen, kann einem durchaus auf die Nerven gehen. Aber die unstete Hauptfigur dieser Komödie ist auf dem Weg in einen Sommer voller Leidenschaft, den sie bald erstaunlich zielstrebig verfolgen wird.

Die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Charline Bourgeois-Tacquet stellt mit Anaïs eine junge Frau vor, die sich nicht entscheiden kann. Das hat sie mit vielen Charakteren um die 30 gemeinsam, wie sie in zeitgenössischen Filmen gerne porträtiert werden. Eigentlich sollte Anaïs nun eine Lebenspartnerschaft eingehen, ihre Doktorarbeit beenden und ins Berufsleben einsteigen. Aber alles in ihr scheint gegen die vorgefertigten Wege zu rebellieren. Was Anaïs sucht, weiß sie selbst noch nicht. Ihre Neugier und Entdeckungslust sind jedoch unbändig. Ihre Spontaneität kaschiert dabei kaum eine latente innere Panik, das Leben in seiner herrlichen Fülle womöglich nicht rechtzeitig zu fassen zu kriegen. Diese Angst erhält neue Nahrung, als sich bei Anaïs’ Mutter (Anne Canovas) die überwunden geglaubte Krebserkrankung zurückmeldet.

Anaïs ist eine moderne Frau, eine Seefahrerin auf Kurs zu neuen Ufern. Als solche stößt sie der Männerwelt fast unweigerlich vor den Kopf. Die Beziehung mit Raoul (Christophe Montenez) scheitert, weil sich Anaïs reflexhaft eingeengt fühlt. Nun ist der Fremde aus der Fahrstuhl-Episode gerne bereit, die Beziehungslücke zu füllen. Was diesem graubärtigen Verleger namens Daniel (Denis Podalydès) vorschwebt, spricht er selbstbewusst offen aus: eine prickelnde Affäre soll es sein, für die er seine Ehe mit der Schriftstellerin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi) jedoch niemals aufgeben würde. Anaïs lässt ihn, der sie ohnehin schon langweilt, empört sitzen. Als sie Émilie zufällig auf der Straße begegnet, spricht Anaïs sie an und schwärmt von ihrem Buch. Nun möchte sie Émilie unbedingt näher kennenlernen. Sie lässt ihren Doktorvater (Christian Jouannet), der ihr einen Job besorgt hat, ungerührt sitzen und reist in die Bretagne. Dort gibt Émilie in einem Schloss ein mehrtägiges Kolloquium – eine gute Gelegenheit für Anaïs, ungestört auszuloten, was sie mit ihrem freigeistigen Vorbild alles verbindet.

Indem sie ihrem Bauchgefühl folgt, verwirft Anaïs die Angebote konventioneller Liebesbeziehungen. Sie stellt alles infrage: Was kann ihr eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der im Alter ihres Vaters ist, überhaupt noch bieten? Dieses Verhältnis wirkt noch während Anaïs sich darin versucht, auf geradezu groteske Weise banal und reizlos. Anaïs lernt aus Fehlern und lenkt dadurch erst ihre Aufmerksamkeit auf Émilie: Gründe, für diese Frau zu schwärmen, die fast im Alter ihrer Mutter ist, findet sie reichlich. Sie lässt sich inspirieren von ihrer inneren und äußeren Attraktivität, ihrer Freiheitsliebe, schaut zu ihr auf, empfindet eine Seelenverwandtschaft. Auch entdeckt sie ihre eigene sexuelle Neigung neu.

Valeria Bruni Tedeschi spielt Émilie souverän als die reife, selbstbewusste Frau, die sich wundert über diese zudringliche junge Person, sich aber auch gerne von Charme und Gewitztheit umgarnen lässt. Auch Anaïs Demoustier bietet ein Spiel von großer Präsenz, dennoch wirkt ihre Rolle geheimnisvoller. Was diese rastlose Figur antreibt, ob sie ins Lot findet oder sich verliert, bleibt lange relativ offen. So erhält der Film eine schöne Spannung. Die sexuelle Anziehung der beiden Frauen wird erst spät manifest und dann handelt der Film sie auch ziemlich dürftig ab. Eigentlich gibt es nur eine explizit erotische Szene am Strand. Und dabei springt der Funke der Leidenschaft nicht wirklich auf das Publikum über. Inszenatorisch wird offenbar wenig Wert auf die Entfaltung sinnlichen Begehrens zwischen den Frauen gelegt, auf den Ausdruck verzehrenden Verlangens.

Das leichte Sommergefühl, das dieser Film mit seinem heiteren Ton erzeugt, speist sich aus verschiedenen Quellen. Da ist Anaïs’ unbekümmertes Geschick, die vielen kleinen und größeren Probleme, die sie verursacht, ganz nebenbei aus dem Weg zu räumen. Und da ist dieses feine Gespür für authentisch wirkende Details. Einmal soll Anaïs wieder dem Handwerker Yoann (Jean-Charles Clichet) bei einer Reparatur am Schlossgebäude helfen, um ihren Aufenthalt in der Bretagne zu verdienen, aber wie üblich steht sie nur herum. Yoann redet über das Ende der kapitalistischen Ära und dass er an die wachsende Bereitschaft vieler Leute glaubt, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Anaïs widmet ihre Aufmerksamkeit derweil einer Kletterpflanze – dieses kleine Duell widerstreitender gesellschaftlicher Strömungen entscheidet der Hedonismus klar für sich. Man könnte meinen, der Film habe eine satirische Prophezeiung gewagt, die über die eigene Geschichte hinausreicht. Anaïs jedenfalls muss nicht begründen, was sie tut und lässt. Sie nimmt sich erst einmal das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen.

Der Sommer mit Anaïs (2021)

Anaïs ist 30 und pleite. Sie hat einen Liebhaber, aber keine Ahnung, ob sie ihn immer noch liebt. Dann trifft sie Daniel, der sich Knall auf Fall in sie verliebt. Allerdings lebt Daniel mit Emilie zusammen — und die findet ihrerseits Gefallen an Anaïs

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen