Der Geschmack von Rost und Knochen (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit den Walen tanzen

Mit Walen tanzen, das ist es, was Stéphanie (Marion Cotillard) beherrscht. Mit einer Handbewegung bringt sie in einem Delphinarium in Südfrankreich die gewaltigen Tiere dazu, vor dem begeisterten Publikum ihre kraftvollen Sprünge zu vollführen — bis das Unglück während einer Vorstellung passiert, das die junge Frau beide Unterschenkel kostet. Mit einem brutalen Schlag des Schicksals ist alles vorbei, ist jede Hoffnung einer tiefen und nackten Verzweiflung gewichen. Und wer weiß, wie alles ausginge, wäre sie nicht kurz zuvor diesem merkwürdigen Mann namens Ali (Matthias Schoenaerts) begegnet, der den Tieren, die sie gebändigt hat (und die doch nicht zu bändigen waren), in mancherlei Hinsicht gleicht.

Ali, mit dem der Film beginnt, hat einen kleinen fünfjährigen Sohn, den er der Obhut der Mutter entrissen hat, nachdem diese ihn als Drogenkurier eingesetzt hatte. Völlig abgebrannt machen sich die beiden auf den Weg nach Südfrankreich, wo Alis Schwester lebt, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Vielleicht gibt es dort unten eine Chance auf einen Neuanfang, eine vage Hoffnung, dass es irgendwie besser werden könnte. Langsam, sehr zaghaft geht es dann tatsächlich aufwärts, fasst Ali Fuß in einem neuen Leben (über das alte erfährt man kaum je etwas Konkretes, außer dass er mal ein hoffnungsvolles Boxtalent war). Zugleich aber bleibt der eher schweigsame Mann stets distanziert gegenüber denen, die ihm eigentlich nahe sein müssten. Als sei er auch im Leben wie im Kampf stets darauf bedacht, dass er geschützt ist vor den Schlägen, die auf einen wie ihn immer wieder niederprasseln. Darunter zu leiden hat vor allem sein Sohn, den er abstellt bei seiner Schwester und der die Demütigungen und die Missachtung, die er erfährt, anscheinend dadurch kompensiert, dass er sich am liebsten in einer Hundehütte aufhält. Dort findet er wenigstens Nähe, die ihm ansonsten völlig abgeht.

Per Zufall begegnen Stéphanie und Ali einander noch vor deren Unfall. Als Ali dann später erfährt, was ihr zugestoßen ist, entwickelt sich eine Geschichte, die man eigentlich für unmöglich gehalten hat — zwischen den beiden Verletzten entsteht so etwas wie eine Freundschaft, später eine Liebe, die Stephanie viel früher als solche erkennt als der ignorante Fighter. Ob diese Liebe, diese ganz besondere Verbindung, aber wirklich eine Chance hat, das bleibt lange Zeit unklar…

Mit Der Geschmack von Rost und Knochen (Originaltitel: De rouille et d’os) ist Jacques Audiard nach Un prophète abermals ein ganz außerordentlicher Film gelungen. Man muss lange nachdenken, um einen Filmmacher auszumachen, der so kraftvoll, kompromisslos und mit vollem Körpereinsatz seine Geschichten erzählt, der seine Figuren an den Rändern von Sympathie und Antipathie entlang und dazwischen balancieren lässt, der Depression und Hoffnung so gekonnt, kunstvoll und wuchtig miteinander verknüpft, bis eine schillernde ud flirrende Parabel über die Welt entsteht, bei der nichts gekünstelt, sondern allein den chaotischen Wechselfällen des Lebens unterworfen scheint.

Lange, sehr lange — eigentlich bis zum Ende — hat man keine Ahnung, wie dieser Film ausgehen wird. Kaum wiegt man sich in Sicherheit oder Gewissheit, welche Richtung Audiard wählt, schlägt er wieder einen Haken, wechselt von Optimismus in den nächsten Schicksalsschlag, lässt Mitleidlosigkeit mit Hoffnung und Zärtlichkeit kollidieren und hält so den Zuschauer unter permanenter Anspannung und in Atem. Und wenn in einer Szene in der Mitte des Films Stéphanie bereits mit ihren Prothesen vor einem riesigen Orca steht und ihn mit leichter Hand und zurückkehrender Souveränität dirigiert, dann ist das wahrhaft einer jener magischen Momente, der berührt und in dem die Zeit stillsteht, weil man ewig diesem Schauspiel zuschauen möchte. Am Ende weiß man, dass die Verletzungen, die beiden widerfahren sind, niemals ganz verheilen werden, dass die Schmerzen zurückkehren werden. Und dennoch besteht Hoffnung, dass es besser wird. Irgendwann und vielleicht ja jetzt oder zumindest bald.

Wenn dieser Film eine frühe Vorahnung des diesjährigen Wettbewerbs von Cannes gibt, dann kann man sich glücklich schätzen, wenn man dabei ist. Ob es wie in diesem großen Film (noch) besser wird, das wagt man freilich kaum zu hoffen.
 

Der Geschmack von Rost und Knochen (2012)

Mit Walen tanzen, das ist es, was Stéphanie (Marion Cotillard) beherrscht. Mit einer Handbewegung bringt sie in einem Delphinarium in Südfrankreich die gewaltigen Tiere dazu, vor dem begeisterten Publikum ihre kraftvollen Sprünge zu vollführen — bis das Unglück während einer Vorstellung passiert, das die junge Frau beide Unterschenkel kostet. Mit einem brutalen Schlag des Schicksals ist alles vorbei, ist jede Hoffnung einer tiefen und nackten Verzweiflung gewichen.

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Meinungen

Tobias Winter · 26.02.2013

Nun eins lässt sich sicher sagen, mit lässigen Kommentaren kommt man ihm nicht bei. Er ist dermaßen beeindruckend, dass ich mich nach Wochen noch frage, was ich da eigentlich gesehen habe. Wie selbstverständlich stellt Audiard soziale und persönliche Tragödie nebeneinander, zerreibt damit die Bedingungen zwangsläufigen Geschehens und eröffnet, den Mut vorausgesetzt, seinen Figuren ein weites Feld möglicher Lebensweisen. Entscheidend scheint, und das ist es was in uns Zuschauern am stärksten zum klingen kommt, dass die Verletzungen der beiden ihnen die Chance gibt sich neu mit der Welt zu verbinden, neu mit ihr zu verwachsen. Wenn das mal (gerade wenn man das auf größere Zusammenhänge überträgt) keine Hoffnung beinhaltet.
Die Welt ist auf eine andere Art schön als wir uns denken - und gerade deshalb atemberaubend.

Severin Wallraff-Fröhlich · 06.02.2013

Geht doch: eine Liebesgeschichte ohne Verbindlichkeiten und Pathos, so oder so ähnlich könnte es gewesen sein, im lakonischen Ton, in einer Stimmlage, die eine Hoffnung genau in dem Moment noch vernehmen lässt, wo sie begraben wird. Riskant.

Dana · 04.02.2013

Eine Liebesgeschichte ganz ohne Romantik mit tollen Bildern und angenehm wenigen Worten, einem passenden Soundtrack und großartigen Schauspielern. Fazit: unbedingt Ansehen!

Kinogänger · 02.02.2013

Der Film ist "ganz nett"? "Bleibt nichts hängen"? Vielleicht so viel: Männer, hört auf sinnlos zu kämpfen! Sonst seid ihr wie Killerwale, die gegen Eisschollen knallen! Und: Frauen, hört auf die Männer zu dressieren...

dan · 16.01.2013

der film ist ganz nett, bleibt aber irgendwie nichts hängen...

ingeborg · 15.01.2013

Da möchte frau sich einen überblick der feedbacks über den film verschaffen, und was liest sie da? Nur klugscheisserische anmerkungen ob wal oder orca!!! Sehr essentiell und sehr deutsch!!

Susanne · 26.11.2012

Zu Petra Klein
Orcas zählen zu den Delfinen. Es sind die größten Delfine, die es gibt. Delfine wiederum gehören zu den Walen - zu den Zahnwalen. Im Gegensatz dazu gibt es dann noch die Bartenwale. Mehr dazu auf meiner Website ...

@Petra · 12.11.2012

Ja, das steht auch mehrfach so im Text. Grüsse, Mike

Petra Klein · 12.11.2012

Liebe Redaktion,

Stephanie arbeitet mit Orcas - das sind Wale!!! - keine Delphine.