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Evan Hansen ist gehemmt und gehört nirgends dazu. Doch plötzlich wird er für den besten Freund eines jungen Mannes gehalten, der sich das Leben genommen hat. Und bekommt mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Nach dem das Musical ein Erfolg war, adaptiert nun Stephen Chobsky den Stoff zu einem Film.

Dear Evan Hansen (2021)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Betrug und Selbstbetrug

Filmmusicals sind ein eigenes, beliebtes Filmgenre. Es ist fast so alt wie die Filmgeschichte selbst, lassen sich doch die Anfänge mit der Einführung des Tonfilms zusammenlegen. In den 1930er Jahren produzierte besonders Warner Brothers am laufenden Band erst Revuefilme und dann Tanz- und Filmmusicals mit steppenden und singenden Darstellern (man denke dabei beispielsweise an Fred Astaire). Der Reiz dieser Filme liegt vermutlich in der Grundform, die zwangsläufig dynamisch und unterhaltsam ist, und darin, dass auch melodramatische Stoffe mit einer gewissen Heiterkeit und relativierenden Verfremdung vermittelt werden können. Neben gesprochenen Abschnitten finden sich Dialoge, die in Sing- und Tanzeinlagen vorgetragen werden. Dies kann so aussehen wie in den Bollywood-Filmen, in denen sich dabei minutenlange, von der Handlung losgelöste Szenen bilden, die diese unterbrechen, oder es tangiert den Fluss der Erzählung kaum.

Zur letzteren Kategorie gehört Dear Evan Hansen von Stephen Chbosky, der nicht von Anfang an als Filmmusical konzipiert, sondern von einem Musical adaptiert wurde. Anders als Vorläufer wie Cats, Grease, Evita, Das Phantom der Oper und viele weitere andere beschäftigt sich Dear Evan Hansen mit einer realistischen Geschichte, die in der Gegenwart verankert ist und die Gefühlswelt seiner Protagonisten erstaunlich differenziert wiedergibt. Das Musical stammt von 2016 und feierte einen erstaunlichen Erfolg, woran der Film nun anknüpfen soll. 

Dear Evan Hansen erzählt aus dem Leben des Jugendlichen Evan Hansen, der an Depressionen und Angstzuständen leidet. Sein Psychiater hat ihm die Aufgabe gegeben, sich jeden Tag selbst einen Brief zu schreiben, der ihn motivieren soll. Die ersten Versuche scheitern, denn in der Schule ist Evan isoliert. Keinem fällt wirklich auf, dass er den Arm gebrochen hat, geschweige denn, dass er jemanden findet, der auf seinem Gips unterschreiben möchte. Als Evan seinen ersten Brief schreibt, in dem er allerdings, gegen die Empfehlung, ehrlich über seine Frustration spricht, gerät dieser in die Hände von Connor (Colton Ryan), eines weiteren unglücklichen jungen Mannes. Am nächsten Tag hat Connor Selbstmord begangen und die Familie nimmt fälschlicherweise an, dass Evans Brief, den sie bei ihm gefunden hat, Connors Abschiedsschreiben sei. Bevor er es sich versieht, glaubt Connors Familie, Evan sei der beste Freund des Sohnes gewesen, und Evan verstrickt sich in ein immer dichteres Lügenkonstrukt.

Für den Film hat der Regisseur den Schauspieler und Sänger Ben Platt, der bereits im Musical die Hauptrolle spielte, als Evan Hansen verpflichtet. Platts Lockenkopf und die linkische Gestik sollen etwas zu plakativ das jugendliche Alter des Protagonisten herausstellen, aus dem der Darsteller sonst mit fast dreißig Jahren herausgewachsen ist. Doch zu sehr stört das gar nicht, denn gerade die Besetzung des Films ist insgesamt recht harmonisch gelungen. Eine ausgesprochene Bemühung für mehr Diversität lässt sich darin erkennen – auch wenn die Darsteller, die einer anderen Ethnie angehören, wie die dunkelhäutigen Alana (Amandla Stenberg) und Jared (Nik Dodani) nur Nebenrollen einnehmen. 

Sowohl in den jugendlichen Rollen wie auch in denen der Erwachsenen, darunter Julianne Moore als Evan Hansens Mutter und Amy Adams als Mutter von Connor und Zoe (Kaitlyn Dever), fällt in der Leistung niemand ab. Während zwei Dritteln des Films schaffen sie es, eine Balance zwischen der Ernsthaftigkeit der Geschichte und der kurzweiligen, auflockernden Form des Musicals zu halten. Doch im letzten Teil verpufft die Energie. Dies liegt am Drehbuch, das die ursprüngliche Differenziertheit der Argumentation zunehmen einbüsst. Die Auflösung zum Ende hin wirkt unsicher, zu hastig abgespult und wird schließlich dem Stoff nicht wirklich gerecht. 

Es ist an sich ein Unterfangen, das hohe Anforderungen an eine sensible Inszenierung stellt, um eine Gratwanderung zwischen der Form und Themen wie Depression, Trauer und Selbstmord zu finden. Bis zu einem gewissen Grad funktioniert es und der Film berührt sehr, doch verspielt er diese Errungenschaft schließlich in der finalen Unentschlossenheit. Er verpasst die Gelegenheit, mehr Gewicht auf entscheidende Momente zu legen, die beispielsweise Evans Beziehung zu Connors Eltern betreffen. Das Lügenkonstrukt, das Evan aufgebaut hat, ist in der Realität zwar falsch, aber verhilft sowohl ihm als auch den meisten anderen um ihn herum zu neuem Mut und Zuversicht. 

Bis fast ins Detail erinnert die Geschichte des Films im übrigen an Der Freund von Micha Lewinsky von 2008. Hier handelt es sich nicht um ein Musical, aber auch um eine Coming-of-Age- und Liebesgeschichte, in der versucht wird, mit trockenem Humor über ein ernsthaftes Thema zu sprechen. Der Protagonist lernt eine junge Frau kennen, die sich kurz darauf das Leben nimmt. Als er bei ihr anruft, um sich mit ihr erneut zu verabreden, nimmt die Familie an, er sei der Freund, von dem die junge Frau in ihrer letzten Zeit gesprochen habe. Eine Reihe peinlicher Situationen tritt dann auf, als der Freund von seiner Beziehung zur jungen Frau erzählen soll. Dieser Aspekt gehört auch in Dear Evan Hansen zu den stärksten Passagen des Films. 

Ganz entsprechend der Ästhetik eines Musicals dominieren poppige Farben in Kleidung und Kulisse. Die Ausstattung ist reichhaltig und sorgfältig, vielleicht aber doch zu ausufernd. Der Film an sich ist mit seiner über zwei Stunden Laufzeit schlichtweg zu lang. Gerade beim Ende hätte man straffen können. Das Gleiche gilt auch für die Musik. Ben Platt beweist ein erstaunlich volles Stimmvolumen, doch endet jedes Lied immer wieder in einem alles übertönenden Crescendo des Orchesters, das wie ein Feuerwerk die Stimme in den Hintergrund schiebt und auch zu unangenehmen Schwankungen in der Lautstärke führt. Zu bemängeln wäre schließlich, dass die kompositorische Substanz reichlich schwach ist, so dass die Musikeinlagen wie die Lieder selbst insgesamt zu monoton wirken und sich nicht wesentlich voneinander unterscheiden.

Dear Evan Hansen (2021)

Vorlage ist das 2017 mit sechs Tony-Preisen ausgezeichnete Musical „Dear Evan Hansen“, das von einen Selbstmord an einer Highschool handelt. 

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