Das wahre Leben ist anderswo

Eine Filmkritik von Silvy Pommerenke

Das Leben in vollen Zügen

Während langer Zugreisen hat man oft das Gefühl, dass das Leben überall anders stattfindet, aber nicht im eigenen Abteil oder in der Nähe der Gleise. Ähnlich erscheint es den drei Protagonisten dieses Filmes zu gehen, die in einer Nacht in drei unterschiedlichen Zügen sitzen, und deren Ausgangsstation Genf ist, von wo aus sie Züge gen Berlin, Marseille und Neapel nehmen.
Während es in Genf zwar ein unbewusstes Zusammentreffen der beiden Frauen und des Mannes gibt, so gehen sie — nachdem die Kamera sie einmal zusammen im Bild eingefangen hat – ihre unterschiedlichen Wege. Die Figuren sind namenlos und stehen damit für die Austauschbarkeit der Geschichten, die allesamt einem ganz bestimmten Ziel folgen: Sie wollen raus aus Genf, um anderswo ein neues Leben anzufangen oder einfach nur anzusehen. Frau Nummer eins (Antonella Vitali) lässt sich von zwei Freundinnen zum Zug bringen, der sie in ihr neues Leben nach Neapel entführen soll. Als Andenken wird ihr ein typisch schweizerischer Fonduetopf mitgegeben, der nur ein paar Stunden später den Besitzer wechseln wird, denn der norditalienische Schaffner (Roberto Molo) kümmert sich liebevoll-aufdringlich um die alleinreisende Frau, die es gilt, in ihrem Abteil vor sexuellen Belästigungen Mitreisender zu schützen. Kurzerhand zieht der Schaffner – anfangs sehr zum Verdruss der Frau – in ihr Abteil mit ein. Was tun zwei Fremde auf vier Quadratmetern? Sie reden. Über Identität, Wurzeln und den Status der zweiten Generation in der Schweiz. Schlussendlich verhilft der unbedarfte Schaffner der zögernden Frau ihren Entschluss, nach Neapel zu ziehen, zu überdenken. Als Dank gibt es einen warmen Abschiedsblick, unvergessliche Stunden und den Fonduetopf.

Der männliche Protagonist (Dorian Rossel) dieses Selbstfindungsfilmes ist auf dem Weg nach Berlin zu seiner Fernbeziehung, die gerade das gemeinsame Kind zur Welt gebracht hat. Aber statt seinen Sohn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, bleibt der frischgebackene Vater in Dortmund hängen, weil es keinen Anschlusszug mehr in die Spreemetropole gibt. Nicht nur er, wie sich herausstellt, sondern auch eine freakige Tschechin (Jasna Kohoutova), mit der er die abenteuerlichsten Dinge erlebt. Versponnen, wie sie ist, stellt sie seine Weltsicht auf den Kopf. Sie spielen wie tollende Hunde Bahnwärtern einen Streich, klettern auf Türme und landen nicht zuletzt bei einem One-Night-Stand in einer Lagerhalle. Darin liegt eine unglaubliche Leichtigkeit, die zwar auch den Zwiespalt des Mannes aufzeigt, aber vor allem diese einmalige Begegnung – mehr wird es nicht werden – als genussvolle und sinnliche Stunden darstellt.

Frau Nummer zwei (Sandra Amodio) ist die selbstbewusste und etwas zurückgezogen lebende Wissenschaftlerin, die zu einem wichtigen Termin nach Marseille unterwegs ist. Für sie geht es dabei um alles, um ihre jahrelangen Forschungsarbeiten, die nun hoffentlich zu einem krönenden Abschluss gelangen. Für ein Privatleben oder Sehnsüchte gibt es da keinen Platz. Um so erstaunlicher, dass sie monetär einem Mann (Vicent Bonillo) aushilft, der kein Geld für eine Fahrkarte hat. Es bleibt nicht nur bei dieser Fahrkarte, sondern auch ein gemeinsam geteiltes Hotelzimmer zieht diese Begegnung nach sich. Letztendlich wird der zurückhaltende junge Mann den Blick der Spitzenwissenschaftlerin dafür öffnen, was wirklich wichtig ist und in ihrem Leben fehlt: emotionale Nähe und Geborgenheit.

Auslöser des Films war ein Zitat Arthur Rimbauds, der die philosophische Frage „Findet das wahre Leben anderswo statt?“ aufwarf. Frédéric Choffat hingegen formuliert den Gedanken nicht als Frage sondern als Diktum, zeigt in seinem Film aber etwas ganz anderes. Denn den drei Hauptfiguren des Filmes passiert das Leben sehr wohl auf der Reise und nicht anderswo. Es ist nur nicht eingeplant und findet mit fremden Menschen statt, zu denen sie – weil sie die Schwerelosigkeit des Reisens in sich tragen – eine Beziehung aufbauen, die so im normalen Leben wohl nicht stattfinden würde. Um das Ganze noch zu unterstreichen, hat sich Choffat sehr gegenpolige Figurenkonstellationen ausgedacht, die in ihrem alltäglichen Leben kaum Berührungspunkte aufweisen dürften. Somit ist der Film ein Hinweis auf all das, was möglich sein kann, wenn man aus den vorgegebenen Mustern ausbricht, wenn man für einen Moment die monogame Beziehung, die Karriere oder die sozialen Grenzen vergisst und sich auf das Abenteuer Leben einlässt. Genauso freiheitlich arbeitet die Kamerafrau Séverine Barde, die mit ihrer Handkamera die Fragilität und Authentizität von solch unerwarteten Begegnungen festhält, die Körper und Gesichter der Figuren ganz nah heranzoomt, wodurch nicht nur eine unglaubliche Intimität erzeugt wird, sondern auch Inhalt und Form zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt wird. Das wahre Leben ist anderswo ist ein modernes Märchen, das die Grenzen der bürgerlichen Normen niederreißt und verdeutlicht, wie sehr sich der Mensch selbst in ein Korsett zwängt, aus dem er allerdings jederzeit ausbrechen kann. Und sei es auch nur für die Dauer einer Nacht.

Das wahre Leben ist anderswo

Während langer Zugreisen hat man oft das Gefühl, dass das Leben überall anders stattfindet, aber nicht im eigenen Abteil oder in der Nähe der Gleise. Ähnlich erscheint es den drei Protagonisten dieses Filmes zu gehen, die in einer Nacht in drei unterschiedlichen Zügen sitzen, und deren Ausgangsstation Genf ist, von wo aus sie Züge gen Berlin, Marseille und Neapel nehmen.
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