Das Leben gehört uns (2011)

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Vorbei, bevor es angefangen hat

Boy meets Girl: Eine Party, aufpeitschende Musik, ein vielsagender Blick und dann wirft er ihr eine Erdnuss entgegen, die sie – wie sollte es auch anders sein – elegant mit dem Mund auffängt. Das ist der Beginn der großen Liebe zwischen Roméo (Jérémie Ekaïm) und Julia (Valérie Donzelli). Und als die beiden sich das erste Mal gegenseitig ihre Namen verraten, ahnt Roméo bereits: „Heißt das etwa, uns erwartet ein tragisches Schicksal?“ Er soll Recht behalten, denn in Valérie Donzellis Film Das Leben gehört uns / La guerre est déclarée (Frankreichs Oscarkandidat für 2011) stehen bereits am Anfang alle Zeichen auf Katastrophe. Dabei läuft zunächst alles wunderbar. Roméo und Julia beziehen eine neue Wohnung und bekommen einen Sohn. Doch mit dem Kleinen stimmt etwas nicht. Nach mehreren Konsultationen mit der Kinderärztin wird die Ahnung zur schockierenden Gewissheit. Der Kleine hat einen Hirntumor. Heilungschancen: minimal.

Wieder ein Film über den Tod, das Sterben, den Krebs, über den Kampf der Angehörigen – eines dieser zurzeit so häufig ins Kino kommenden Krankenhausmelodramen. Das trifft hier zwar alles irgendwie zu. Und doch ist dieses Werk in seiner Tonart anders — bunter, frecher, fast schon dreist. Valérie Donzelli fährt die ganze Palette dramaturgischer Mittel auf, die sich geradezu weigern, die Geschichte auf die herkömmlichen Erzählbahnen zu lenken. So wechseln sich im Off-Kommentar Roméo und Julia ab, wobei sie manchmal allwissend die Geschichte aus einer fernen Zukunft erzählen und dann wieder nur Echos und innere Monologe gewisser Szenen und Situationen sind. Damit kippt auch der Ton des Films regelmäßig vom Drama zur Komödie. Besonders gut erkennt man das vielleicht an der kuriosen Montage, mit der – nach der Krebsdiagnose des Kindes – die Eltern des Pärchens in den Film eingeführt werden. Es ist ein vollkommen überzeichneter Haufen: Roméos Mutter, die Lesbe mit Lebensgefährtin und Julias Eltern, die konservativen Le Figaro-Leser. Mit einer wilden Armbewegung holt der Film damit die Klischees in seine Erzählung und steuert munter auf den unerträglichen Kitsch zu. Und spätestens, wenn urplötzlich Roméo und Julia ein Chanson anstimmen, glaubt man sich in der ärgerlichsten Kinoproduktion des Jahres zu befinden.

Doch Provokation und Zumutung sind gewollt. Das Leben gehört uns macht die Widersprüchlichkeit der Ausgangslage zu seiner Form. Denn es darf ja nicht sein, dass ein unschuldiges Kleinkind unheilbar an einem Hirntumor erkrankt, es darf nicht sein, dass ein junges, glückliches Paar sich mit dem Tod konfrontiert sieht. Da ist es nur konsequent, dass sich diese Ohnmacht auch in der Struktur des Films äußert. Nicht umsonst versammelt der großartige Soundtrack unterschiedliche Stile und Interpreten von Vivaldi und Morricone über Chansons und Folksongs bis hin zu knallhartem Techno. Das Melodrama legt hier seine Betonung sehr elegant auf die erste Silbe und entwickelt den gleichzeitig abstoßenden und anziehenden Reiz eines Kettenkarussells.

Ein weiterer Reiz dieses erfrischend unstimmigen Films ist sein Gespür für das Verhalten einer gewissen Generation junger Erwachsener. Mit dem Elternpaar zeichnet er äußerst glaubhaft die Welt von frischen Eltern, die sich immer treu bleiben wollen, die auf nichts verzichten möchten, nur weil sie jetzt Mama und Papa geworden sind. Am Verhalten von Roméo und Julia zeigt sich diese Einstellung zum Leben folgendermaßen: Beide haben aufregende und zeitintensive Jobs und verzichten trotz Nachwuchses nicht auf ein (hier sehr „französisch“ freizügiges) Partyleben. Das Leben gehört uns ist daher auch eine Coming-of-Age-Geschichte geworden. Denn trotz der bewundernswerten Kraft, dem ansteckenden Humor und dem Durchhaltevermögen, mit dem die beiden den Kampf gegen den Tumor ihres Sohnes bestreiten, müssen sie sich fragen, ob ihre Beziehung stark genug ist, um noch alle Lebensentwürfe und Vorstellungen unter einen Hut zu bringen.

In gewisser Hinsicht machen Roméo und Julia damit die gleiche Erfahrung, die schon Milan Peschel bei Andreas Dresen machen musste. Sie machen Halt auf freier Strecke, müssen aussteigen, obwohl sie eigentlich weiterfahren sollten. Dem konzentrierten Ton von Dresen setzt Donzelli aber den unbändigen Strom der Emotionen entgegen. Vielleicht ist die ganze Situation nicht ganz so unausweichlich wie bei Dresen. Doch auch der Krieg von Roméo und Julia wird seine Opfer verlangen. Und so überraschend sich das Geschehen gegen Ende entwickeln mag, beide wussten doch von vornherein, wie unmöglich das ganze Vorhaben werden würde.
 

Das Leben gehört uns (2011)

Boy meets Girl: Eine Party, aufpeitschende Musik, ein vielsagender Blick und dann wirft er ihr eine Erdnuss entgegen, die sie – wie sollte es auch anders sein – elegant mit dem Mund auffängt. Das ist der Beginn der großen Liebe zwischen Roméo (Jérémie Ekaïm) und Julia (Valérie Donzelli). Und als die beiden sich das erste Mal gegenseitig ihre Namen verraten, ahnt Roméo bereits: „Heißt das etwa, uns erwartet ein tragisches Schicksal?“

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Meinungen

N. Schmidt · 10.11.2012

ein außergewöhnlicher Film, schwungvoll, teilweise traurig und trotzdem humorvoll und wunderschön