Das Herz von Jenin

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine bewegende Geschichte aus dem Nahen Osten

Es war pure Intuition, die Leon Geller geistesgegenwärtig handeln ließ. Am Morgen hatte er per Zufall von der Geschichte erfahren. Und noch am selben Abend drehte er die ersten Bilder zu Das Herz von Jenin, den der in den USA geborene und in Israel lebende Regisseur gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen Marcus Vetter realisierte. Und nicht nur dieser Aspekt der Entstehungsgeschichte sollte sich für viele der Beteiligten als glückliche Fügung erweisen. Denn die Geschichte, die sich im Laufe der Dreharbeiten entwickelte, hätte besser, dichter und prägnanter nicht erfunden werden können. Dabei erscheinen auch die Hintergründe für diese wahre Geschichte auf den ersten Blick als unwahrscheinlich, nach unseren Maßstäben sogar als unmöglich.
Als der 12-jährige Palästinenserjunge Ahmed Khatib im Flüchtlingslager von Jenin durch die Kugeln israelischer Soldaten getroffen wird, können die Ärzte im Krankenhaus von Haifa, in das der Junge gebracht worden war, nur noch den Hirntod des Jungen feststellen. Obwohl der kleine Körper von Maschinen am Leben erhalten wird, sind seine Überlebenschancen gleich null. Was nun geschieht, ist weniger ein medizinisches Wunder, als vielmehr ein zutiefst menschliches, das wohl keiner der Beteiligten erwartet hat. Zumal Ahmeds Vater Ismael die Israelis seit Jahren bekämpfte und wegen seines massiven Widerstandes bereits zehn Mal im Gefängnis gesessen hatte. Außerdem hatte er nach Militäraktionen mehrmals wieder bei Null anfangen müssen, so dass der Vorschlag des arabischen Israeli Raymond, der als Krankenpfleger in einer Klinik in Haifa arbeitet, für den trauernden Vater völlig überraschend kommt.

Mit den Organen von Ahmed, so gibt Raymond Ismael, dem Vater des Jungen zu verstehen, ließen sich die Leben vieler Kinder – auch jüdischer Kinder – retten. Der Vater zögert, bespricht sich mit seiner Frau, zieht den Mufti von Jenin und den Kommandanten der Al-Aksa-Brigaden zu Rate – und stimmt schließlich zu. Schnell verbreitet sich die Geschichte in den Medien des Landes – einen Akt wie diesen hat man im vergifteten Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern nicht erwartet. Ob es nun an der großen medialen Aufmerksamkeit oder an einer anderen Gesetzgebung in Israel liegt: Anders als in Deutschland wissen sowohl der Vater des Spenders als auch die Familien der Empfänger genau, wer die Organe erhalten hat bzw. was der Hintergrund des Organspenders ist. Zwei Jahre später macht sich Ismael unter enormen Schwierigkeiten nach Israel auf, um all die Kinder aufzusuchen, in denen ein Teil seines Sohnes weiterlebt…

Wie leicht hätte sich aus dieser bewegenden Geschichte ein wohlmeinendes Pamphlet der Mitmenschlichkeit machen lassen, das zu der Annahme verführt, die Konflikte in der Krisenregion Nahost ließen sich mit etwas gutem Willen schon irgendwie regeln. Doch genau in diese Falle tappen Leon Geller und Marcus Vetter nicht. Sondern zeigen stattdessen Ismael und all die Menschen, die er im Laufe seiner Reise besucht, als Querschnitt durch eine zutiefst heterogene und gespaltene israelische Gesellschaft: Orthodoxe Juden aus den USA, die Ismael auch mal den Rat geben, sein Glück doch als Gastarbeiter in der Türkei zu versuchen, Beduinen, die sich einerseits als Außenseiter empfinden, andererseits aber ganz selbstverständlich in der israelischen Armee dienen, bizarre Grenzkontrollen und paranoide Rituale des Misstrauens und der Erniedrigung sowie viele andere verstörende Details transportieren ein sehr widersprüchliches Bild Israels als Land mit extremen Spannungen und Kontrasten – ein Bild, das man so aus den Nachrichten nicht kennt und das wahrscheinlich genau deshalb die Realitäten in dem Land umso besser wiedergibt.

Auch Ismael, der Vater des Jungen ist dabei keine hehre Lichtgestalt, sondern ein Mann, der immer wieder betont, dass er seine Arbeit mit den Kindern von Jenin dezidiert als Akt des Widerstandes verstanden haben will. Trotzdem ist es vor allem er, dessen ruhige und überlegte Art ihn zu einem Helden werden lässt in einem Konflikt, bei dem vor allem die Kinder die Verlierer sind. Und so erscheint es beinahe zwangsläufig, dass er heute ein Jugendzentrum in Jenin leitet und auf diese Weise Widerstand durch Bildung leistet, wie er es nennt.

Im Abspann erfährt man, dass zwei der Familien, die Spenderorgane von Ahmed Khatib erhielten, anonym bleiben wollten und dass ein weiteres Kind, ein neun Monate altes Baby starb. Trotzdem geht man als Zuschauer mit einem ähnlichen Gefühl aus diesem Film, wie es wohl auch der Vater des Jungen empfinden muss. Der Geist von Ahmed lebt weiter. Und all die Widersprüche in der israelischen Gesellschaft und scheinbar unüberwindbaren Gegensätzen zwischen den Forderungen der Palästinenser und den Einstellungen der Israelis bestehen nach wie vor – aller Menschlichkeit, allen Versuchen sie zu überwinden zum Trotz.

Das Herz von Jenin

Es war pure Intuition, die Leon Geller geistesgegenwärtig handeln ließ. Am Morgen hatte er per Zufall von der Geschichte erfahren. Und noch am selben Abend drehte er die ersten Bilder zu Das Herz von Jenin, den der in den USA geborene und in Israel lebende Regisseur gemeinsam mit seinem deutschen Kollegen Marcus Vetter realisierte. Und nicht nur dieser Aspekt der Entstehungsgeschichte sollte sich für viele der Beteiligten als glückliche Fügung erweisen.
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Meinungen

Irshaid, Karin · 06.07.2010

ein aktueller Film, der ein schwieriges Thema völlig unsentimental, klar und dennoch ergreifend dokumentiert. Ein MUSS in der heutigen politischen Zeit!