Das ganze Leben liegt vor Dir

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit Heidegger im Call-Center

„Du hast das ganze Leben noch vor dir“ — wie oft hat man diesen Satz schon gehört. Vor allem, wenn man jung ist, die Schule oder das Studium gerade abgeschlossen hat und sich auf den Eintritt ins Berufsleben vorbereitet. Bevorzugt wird dieser Satz, der eigentlich Mut machen soll, von alten Tanten, von Eltern und überhaupt allen geäußert, die es gut mit einem meinen. Allein – die Wirklichkeit sieht meistens anders aus. Von diesen Realitäten erzählt der italienische Filmemacher Paolo Virzì. Und zwar — entgegen der Erwartung, die man bei solch einem Thema zwangsläufig hat —  auf ganz und gar märchenhafte Weise.
Das beginnt bereits in den ersten Minuten des Films, wenn die junge Philosophiestudentin Marta (Isabella Ragonese) mit dem Bus durch Rom fährt. Auf wundersame Weise wandeln sich plötzlich all die eiligen Passanten, die ihren schicken Büros und coolen Firmen zustreben, vor ihren Augen in ein wahres Ballett der Werktätigen, die ausgeruht und bestens gelaunt zum zutiefst befriedigenden und natürlich toll bezahlten Tagwerk eilen. Ja, das Arbeitsleben ist schon eine Lust im Italien des Cavaliere Berlusconi.

Für Isabella, die ihren Abschluss an der Uni natürlich mit besten Noten hinbekommt, erweist sich die Jobsuche allerdings schnell als Frust – was eigentlich angesichts ihres Studienfachs Philosophie nicht wirklich überraschen kann. Trotzdem ist es irgendwie komisch, immer wieder ehemaligen Kommilitonen zu begegnen, die zwar das Studium nicht gepackt haben, aber stattdessen einen guten Job ergattert haben. Die gute Laune will sich die hübsche junge Frau trotzdem nicht verderben lassen und nimmt brav jeden Job an, den sie kriegen kann. Bis sie schließlich bei Multiple landet, einem Telemarkting-Konzern, bei dem sie im Call-Center als Verkäuferin anheuert. Schnell stellt sich heraus, dass die Firma eher einem seltsamen Psychokult als einen Unternehmen gleicht – im Zeichen der Motivation werden hier morgens gemeinsam Feel-Good-Schlager gesungen und dazu die Hüften rhythmisch bewegt, als sei man in einer Show eines Privatsenders von Silvio Berlusconi. Die Teamleiterin Daniela (Sabrina Ferilli), die streng über ihre Untergebenen wacht, nimmt die Loyalität zum Unternehmen allerdings ein wenig zu ernst. Außerdem ist da noch der Gewerkschafter Giorgio (Valerio Mastandrea), der sich nicht nur für die Machenschaften und Arbeitsbedingungen von Multiple, sondern auch für Marta interessiert…

Erstaunlich heiter und voller Lebenslust erzählt Paolo Virzì in seinem Film Tutta la vita davanti – Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir von Studienabgängern, die keinen Job finden, von Firmen, die mit allen Methoden das Letzte aus ihren Mitarbeitern herauspressen und diese ausspionieren, von den vielen kleinen Enttäuschungen und Demütigungen auf dem Weg ins Berufsleben; kurzum: Vom ganz normalen Leben junger Akademiker in Europa, die sich auf einem immer schwieriger werdenden Arbeitsmarkt behaupten müssen. Niemals verfällt der Film angesichts der beklagenswerten Zustände in Larmoyanz, sondern behält wie seine Hauptfigur immer auch seine gute Laune. Das ist zwar für teutonische Seelen nicht unbedingt glaubwürdig, trifft aber die italienische (Über-)Lebenskunst, sich selbst mit den widrigsten Umständen zu arrangieren („l’arte d’arrangarsi“ heißt dieses weit verbreitete Phänomen in Italien, es gehört dort quasi zur mentalen Grundausstattung), punktgenau auf den Kopf.

Am Ende unterliegt allerdings auch Virzì den Verlockungen des Seichten, die er zuvor auf liebevoll-ironische Weise karikiert hat. Wenn Daniela zunehmend zur psychopathischen Furie wird, die Wunschtraum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten kann, wenn sie als verschmähte Geliebte blutige Rache nimmt für unzählige kleine Zurückweisungen, dann wirkt das bei aller Freude an der Übertreibung so unglaubwürdig, dass der Film auf den letzten Metern einiges von seinem Potenzial ohne Not verschenkt. Die Verblödung und Trivialisierung der italienischen Gesellschaft, die Kannibalisierung des Arbeitsmarktes, die zunehmende Prekarisierung junger Menschen  — all das wird am Ende fast den Mechanismen der Soap Opera geopfert. Wodurch dem Film einiges von seiner Schärfe genommen wird.

Was zurückbleibt, ist ein Film, wie er beinahe nur in Italien entstehen kann, wo in den 1950er und 1960er Jahren die „Commedia all’italiana“ Erfolge feierte – an diese Traditionen knüpft Virzì zweifellos an und schafft mit seinem Film einen nahezu mühelosen Transfer des Genres in die Neuzeit. Trotz des übertriebenen Schlusses – auch er steht in der Tradition der „Commedia all’italiana“ – und bei aller Lebens- und Spielfreude des Ensembles ist Tutta la vita davanti vor allem ein Plädoyer dafür, inmitten einer offensichtlich nur noch an Effizienz ausgerichteten Arbeitswelt die (Mit-)Menschlichkeit nicht zu vergessen. So banal diese Botschaft auch klingen mag: Es ist gut, wieder einmal daran erinnert zu werden. Wir könnten sie sonst vergessen.

Das ganze Leben liegt vor Dir

„Du hast das ganze Leben noch vor dir“ — wie oft hat man diesen Satz schon gehört. Vor allem, wenn man jung ist, die Schule oder das Studium gerade abgeschlossen hat und sich auf den Eintritt ins Berufsleben vorbereitet. Bevorzugt wird dieser Satz, der eigentlich Mut machen soll, von alten Tanten, von Eltern und überhaupt allen geäußert, die es gut mit einem meinen.
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Meinungen

mafi · 16.06.2010

tolle kritik, danke :)