Das Fremde in mir

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Baby-Blues?

Wie sich doch die Bilder gleichen: Eine sichtlich verwirrte Frau irrt durch einen Wald. Eine solche Szene findet sich am Ende von Lornas Schweigen / Le silence de Lorna von Jean-Pierre und Luc Dardenne und ebenso in Emily Atefs Film Das Fremde in mir. Was die Szenen miteinander verbindet, ist auch ihre Verknüpfung mit der Schwangerschaft der Heldin. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Und das liegt auch an der Positionierung der Szenen im Film und damit an der Bedeutung der Schwangerschaft für den weiteren Verlauf des Films. Während in Lornas Schweigen die (eingebildete) Schwangerschaft den Schlusspunkt der Reise der Heldin markiert, hat Rebecca in Das Fremde in mir ihr Kind gerade geboren. Und damit nimmt der Film seinen Ausgangspunkt und das Unheil seinen Lauf.
Während der Schwangerschaft schien noch alles in Ordnung zu sein mit Rebecca (Susanne Wolff, die für ihre außerordentliche darstellerische Leistung zu Recht den Förderpreis Deutscher Film auf dem Filmfest München in der Kategorie Beste Darstellerin entgegennehmen konnte), doch bereits mit der Geburt ändert sich das. Wir sehen sie nach der Geburt total erschöpft auf dem Bett liegen, das noch blutverschmierte Baby auf dem Bauch, doch etwas stimmt nicht. Es ist der Blick, mit dem Rebecca ihren neugeborenen Sohn Lukas betrachtet, eine dezente Mischung aus Ungläubigkeit und Fremdheit. Vom viel beschworenen Mutterglück aber sehen wir nichts. Das Fremde in Rebecca, das im Titel erwähnt wird, ist eben nicht das Kind, wie man zuerst vielleicht meinen möchte, sondern die Abwesenheit jeden liebenden Gefühls für das hilflose kleine Wesen. Rebeccas Mann oder Lebensgefährte Julian (Johann von Bülow) bekommt davon nichts mit, sein Glück ist perfekt. Und die junge Mutter bemüht sich nach Kräften, ihren wachsenden Widerwillen gegen das Kind mit sich alleine auszumachen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Es mehren sich die Situationen, die Rebecca zeigen, dass mit ihr etwas nicht stimmt: Als sie ihren Blumenladen wiedereröffnen will und Lukas ihr interessiert beim Blumenbinden zuschaut, erträgt sie seinen Anblick nicht mehr und entfernt ihn aus ihrem Blickfeld. Beim Besuch einer Freundin, die sich begeistert auf das süße Baby stürzt, steht sie wie eine Fremde daneben. Und als sie Lukas badet und dabei ganz langsam unter Wasser taucht, spüren wir voller Grauen, wie sehr sie mit sich kämpft, ihren Sohn zu ertränken. Dies ist sicherlich die schrecklichste Szene des Films, weil sie so unspektakulär und doch voller Intensität gespielt und inszeniert wird. Allein gelassen und unfähig, ihre Gefühle und all die Scham, die sich mit ihnen verbindet, zu äußern, beschließt Rebecca, den Freitod zu wählen, bevor sie zur Gefahr für ihr Kind wird. Der Selbstmordversuch im Wald misslingt, Rebecca wird gefunden und in eine Klinik eingeliefert. Und erst jetzt realisiert ihre Familie, was wirklich mit ihr los ist. Doch der Weg zurück ist steinig und Rebeccas Beziehung zu Julian hat schwer gelitten, zumal dessen Vater Bernhard (Hans Diehl) und Schwester Elise (Judith Engel) für ihre Erkrankung kein Verständnis aufbringen.

Rund 80.000 Frauen erkranken Jahr für Jahr in Deutschland an der so genannten „postpartalen Depression“ (PPD). Trotz dieser gewaltigen Zahl ist die Krankheit in der Öffentlichkeit kaum im Gespräch oder wird gerne verniedlicht. Tatsächlich unterscheidet man drei Kategorien der postpartalen Erkrankung, die fließend ineinander übergehen können: Zum einen das „postpartale Stimmungstief“ (auch „Baby-Blues“ genannt), das in den ersten zehn Tagen nach der Entbindung auftritt und dann meist von selbst wieder verschwindet. Zum zweiten die „postpartale Depression“, die während des gesamten ersten Jahres auftreten kann und die sich meist schleichend entwickelt. Und zuletzt gibt es die „postpartale Psychose“ als schwerste Form der nachgeburtlichen Krise, die unter anderem auch zu schizoiden Wahnvorstellungen führen kann. So dramatisch sich das auch anhören mag: Die Heilungschancen bei den allermeisten postpartalen Krisen sind ausgezeichnet, wenn die Betroffenen sich öffnen und ihren Kummer offenbaren. Doch genau darin liegt die Schwierigkeit in den meisten Fällen.

Mütter, die nicht in der Lage sind, eine „normale“ emotionale Beziehung zu ihren Kind aufzunehmen, sie entsprechen einfach nicht dem immer noch vorherrschenden gesellschaftlichen Bild des jungen Mutterglücks und der quasi zwangsläufigen Erfüllung, die Frauen in dieser Rolle zu finden haben. Und wie in Das Fremde in mir deutlich zu spüren, verstärkt diese Erwartungshaltung der Umwelt das Unbehagen der betroffenen Frauen noch mehr, macht sie zu isolierten Außenseiterinnen, die im Extremfall keinen anderen Ausweg sich, als sich selbst am Ende das Leben zu nehmen.

So spektakulär agiert Emily Atef in ihrem feinfühligen und zurückhaltend inszenierten Film nicht, ihr geht es niemals um die große Geste und die große Tragödie, sondern vielmehr um genau ausbalancierte Zwischentöne; um das, was mit den betroffenen Müttern geschieht und welche Auswirkungen das haben kann. Vor allem aber, und das kann man gar nicht hoch genug einschätzen, gelingt es ihr, ohne jeden Misston aufzuzeigen, dass die Krankheit gute Aussichten auf Heilung hat, sofern sich die Frauen aus ihrem Gefängnis aus Schuld, Scham und Schweigen zu befreien und sich zu öffnen im Stande sind. Jede Krise birgt auch die Chance auf einen Neuanfang in sich. Das ist die Botschaft dieses Films, der einen tiefen Eindruck hinterlässt. Und das nicht nur, weil er der erste Film ist, der sich dieses Themas annimmt, sondern vor allem auch durch die Art und Weise, wie er das tut – distanziert und doch voller Anteilnahme, leise und mit einer unheimlichen Präzision.

Das Fremde in mir

Wie sich doch die Bilder gleichen: Eine sichtlich verwirrte Frau irrt durch einen Wald. Eine solche Szene findet sich am Ende von Lornas Schweigen / Le silence de Lorna von Jean-Pierre und Luc Dardenne und ebenso in Emily Atefs Film Das Fremde in mir.
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Meinungen

@Annemarie Gruber · 25.08.2009

Nein, der ist noch nicht auf DVD erschienen. Grüsse, Mike

Annemarie Gruber · 25.08.2009

Gibt es den film als DVD??

Snacki · 12.11.2008

Zurecht sehenswert!