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Die britische Regisseurin Andrea Arnold zeigt in ihrem ersten Dokumentarfilm das ganz normale Leben einer Kuh derart unspektakulär, dass darin bereits etwas sehr Spektakuläres steckt

Cow (2021)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Aus dem Leben einer Kuh

Die britische Regisseurin Andrea Arnold gehört unzweifelhaft zu jenen Filmemacherinnen, die — spätestens seit ihrem letzten Spielfilm „American Honey“ untrennbar mit dem Filmfestivals in Cannes verbunden sind. Und so verwundert es nicht, dass sie in diesem Jahr den Juryvorsitz in der Reihe Un Certain Regard innehat. Noch schöner aber ist, dass gleichzeitig auch ihr neuestes Werk „Cow“ in Cannes zu sehen ist, und zwar in der neu geschaffenen Reihe Cannes Premières

Natürlich erinnert Cow von der Grundprämisse her an Victor Konchalovskys Film Gunda, der demnächst in den deutschen Kinos startet — mit der Ausnahme vielleicht, dass es hier eben nicht um ein Schwein, sondern um eine Kuh geht. Und doch ist Andrea Arnolds Ansatz ein anderer, direkterer, näherer. Sie zeigt die tägliche Routine der Kuh Luna fast ausschließlich aus der Perspektive und in Augenhöhe des Tieres und das teilweise so nah, dass an einigen Stellen der — Verzeihung — Kuhhintern gegen die Kamera bzw. das Mikro kracht, was zu einem vernehmlichem Rumsen auf der Tonspur führt. Direct Cinema also im sehr eigentlichen Sinne. 

Ansonsten beherrscht das Muhen Lunas und der anderen Kühe die Tonebene, unterbrochen nur von den gelegentlichen Rufen der Menschen, die fast die ganze Zeit über gesichtslos bleiben und sich überwiegend freundlich gegenüber den Tieren verhalten: „Good girl“ und „Come on, girlies“ hört man immer wieder, oder beruhigende Worte, wenn einem Jungtier die Hörner ausgebrannt werden oder wenn ein Kalb mittels Seilen und Ketten aus dem Leib der Mutter gezogen wird — dies sind zwei der schmerzhaftesten Momente in einem Film, der sich ansonsten auffällig fernhält von Schockbildern, wie man sie etwa in Georges Franjus Dokumentarfilmklassiker Le Sang des bêtes aus dem Jahre 1949 über die Schlachthöfe von Paris kennt oder wie es Nikolaus Geyrhalter in seinem Film Unser täglich Brot mit enervierender, industriell getakteter Monotonie vorgeführt hat. 

Auf einen Voice-over-Kommentar oder Musikeinsatz verzichtet Andrea Arnold — von den Popsongs, die im Stall aus dem Radio schallen einmal abgesehen - und vermittelt so einen ungefilterten Eindruck, wie man sich das Leben einer ganz normalen Kuh auf einem recht mustergültig geführten Bauernhof irgendwo in England wohl aussehen muss. 

Ihr Film ist keine wütende Anklage gegen die barbarischen Zustände in der Massentierhaltung, sondern ein ebenso nüchterner wie ernüchternder Blick auf das monotone Leben eines Tieres, dem wir unseren Willen aufgezwungen haben, das wir in Ställe sperren, dessen Milch wir trinken und dessen Fleisch wir essen.

Cow (2021)

In ihrem neuen dokumentarischen Film widmet sich Andrea Arnold (Fish Tank, American Honey) dem Leben zweier Kühe.

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Meinungen

Martin Balluch · 17.02.2022

Das Bemerkenswerte an diesem Film ist, dass er die Milchindustrie aus Sicht der Kuh zeigt, unkommentiert durch Menschen und überhaupt nicht anthropomorphisiert. Und genau diese Perspektive fehlt in der Diskussion über Haltungsbedingungen von sogenannten "Nutztieren". Wir dürfen nicht fragen, wieviel Tierwohl ist praktikabel und leistbar, unter der Prämisse, dass wir auf jeden Fall Milch in solchen Massen, wie heute, produzieren wollen. Wir müssen uns fragen, wie geht es der Kuh, mit welchem Recht bestimmen wir so über sie, nehmen ihr die Kinder, zwingen sie schwanger zu sein und Milch zu geben. Wir müssen uns fragen, was will die Kuh und wie können wir ihr das geben. Und von diesen Gedanken ist es nicht weit bis zum Veganismus.
Übrigens geht es der großen Mehrheit der Milchkühe in Österreich deutlich schlechter als Kuh Luna in diesem Film. Kein Wunder, sonst hätte diese Farm keine Filmerlaubnis gegeben. Ebenso verwundert natürlich nicht, dass die Menschen durchgehend nett sind. Was sonst, wenn die Kamera mitläuft. Ich möchte nicht wissen, was genau an dieser Farm passiert, wenn keine Kamera dabei ist.

Antonietta · 07.02.2022

Auch Standardpraktiken der Milchindustrie verursachen viel Tierleid: So werden beispielsweise die empfindsamen Hornansätze der meisten Kälber mit einem glühend heißen Brennstab entfernt, damit der Umgang mit den Tieren leichter ist und möglichst viele Kühe auf engem Raum gehalten werden können. Meist erhalten die Tiere bei diesem äußerst schmerzhaften Eingriff keine Betäubung.
Fast allen Kühen in der Milchindustrie werden kurz nach der Geburt die Kälber weggenommen.