Log Line

In „Closing Time“ nimmt der Besitzer eines Nachtlokals in Taipeh eines Morgens spontan die falsche Abzweigung und fährt in Richtung Meer. Die Geschichte einer Befreiung ist der Film trotzdem nicht.

Closing Time (2018)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Nur ein Teil des Kontinuums

Closing Time ist ein Zitat vorangestellt. Sinngemäß besagt es: „Wer immer nur in der Nacht arbeitet, droht zu vergessen, dass er je einen Schatten geworfen hat.“ Dazu kein Urheber, nur der Hinweis: „An einer Straßenecke mitgehört.“ Aber wer, der den Film schaut, kann das schon so genau wissen? Vielleicht wollte Nicole Vögele, die Regisseurin, auch immer schon einen Film mit diesen Worten beginnen lassen. Überhaupt verschwimmen in Closing Time vollends die Formen. Er ist als Spielfilm aufgeführt, aber so neugierig wie die Menschen auf den Straßen in die vorbeifahrende Kamera schauen, wird deutlich, dass hier abseits der Hauptfiguren kein abgesprochener Dreh stattfindet.

Von Zeit zu Zeit könnte Closing Time auch ein Dokumentarfilm sein. Oder ein essayistisches Musikvideo zur neuen Ambientplatte von Kevin Drumm, der gemeinsam mit Jonathan Schorr und Alva Noto die Soundscapes des Films entworfen hat. Auch hier wieder: fließende Grenzen. Töne, die im einen Moment noch wie eine Melodie klingen und im nächsten schon wie das Surren unzähliger Kühlaggregate der Stadt, die sich mit dem Straßenlärm mischen. Schreit der Vogel von sich aus so regelmäßig oder ist er Teil des Loops?

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Ein Teil dieser endlosen Anhäufung aus Klängen und Eindrücken ist jedenfalls Mr. Kuo, der mit seiner Ehefrau Mrs. Lin ein kleines Nachtlokal in Taipeh führt. Eine schmale metallene Theke trennt den kargen Raum von der vielspurigen Straße und dem Freeway, der auf massiven Betonpfeilern darüber dräut. In einer klassischen Synopse schriebe man nun, dass Mr. Kuo eines Morgens genug hat vom alltäglichen Trott und auf dem Weg vom Großmarkt spontan die Abzweigung zum Meer nimmt. Aber so einfach ist es nicht. Das beginnt schon damit, dass in Closing Time niemand wirklich erzählt.

Die Kamera zeigt uns Ausschnitte aus dem nächtlichen Leben im Lokal: schlaflose Paare und junge Familien, der Tattoo-Künstler von nebenan und der Straßenhund treiben auf der Suche nach Schutz vor dem Taifun und einer warmen Mahlzeit herein und wieder hinaus, auf dem Großmarkt ereignen sich die täglich identischen Gespräche über steigende Preise und die sich verschlechternde Qualität der Ware. Besonders aber interessiert sich Nicole Vögele für alltägliche Gegenstände und für kreisförmige Bewegungen, die sie mithilfe der Kamera zu geradezu magischen Symbolen auflädt. In langen Einstellungen filmt sie die wabernden Eierwolken in einer Suppenschüssel, den Sekundenzeiger in Form eines Ying-Yang-Symbols, der sich unaufhörlich in der Mitte eines Zifferblatts dreht. Rotierende Ventilatoren, die einen bei längerem Hinsehen regelrecht zu hypnotisieren drohen.

Erst über die genaue Betrachtung dieser Gegenstände erschließt sich Closing Time. Dann zeigt sich, dass der Film keine romantisch-idealistische Geschichte einer Befreiung von der Last des Alltags erzählt. Vielmehr ersetzt er den Kreislauf der Natur, als dessen Teil der Mensch seit jeher Gefangener eines Kontinuums war, durch den Kreislauf eines regelmäßigen Arbeitsrhythmus in einer durch und durch technisierten Welt. Mr. Kuo und Mrs. Lin verdanken dem elektrischen Licht, dass sie sich der naturgegebenen Taktfolge aus Tagen und Nächten widersetzen können. Dennoch sind sie Teil der kapitalistischen Logik. Wenn Mr. Kuo die andere Ausfahrt nimmt, landet er nicht in unberührter Natur, sondern in Landschaften, denen man das Eingreifen der Menschen deutlich ansieht. Er landet in einem Dorf zwischen bestellten Feldern und hoch aufragenden Strommasten – lediglich an einem anderen Ende der Verwertungskette, das nach einem anderen Rhythmus funktioniert.

Nach Hinweisen auf diesen in sich völlig schlüssigen Widerspruch muss Nicole Vögele nie lange suchen. Sie findet ihn in den schmalzigen Liebesliedern und eskapistischen Seifenopern, die in Closing Time ständig auf irgendeinem Bildschirm im Hintergrund laufen oder im Karaoke zum Besten gegeben werden. Sie findet ihn auch in der Aufschrift auf der Jacke eines Familienvaters im Lokal: „Stop and look around for a while — you could miss it.“ Immer scheinen die winzigen Freiheiten, die die Figuren sich nehmen, nur eine Illusion zu sein. Und immer scheinen sie doch auch beruhigt darüber, als Teil eines übergeordneten Systems absehen zu können, wo sie morgen um die gleiche Uhrzeit sein werden. Wie Mrs. Lin das plötzliche Verschwinden ihres Mannes aufnimmt, zeigt uns Nicole Vögele nicht mehr. Vielleicht würde ihre Reaktion die wortarme Poesie des Films stören.

Closing Time (2018)

3 Uhr morgens, Zhongzheng-Strasse, Taipeh. Der Verkehr donnert ohne Unterlass durch die Metropole. Gesäumt von einer mehrspurigen Strasse und unterhalb einer grossen Autobahn, liegt das «Little Plates with Rice», ein Nachtlokal, in dem Herr Kuo und seine Gattin, Frau Lin, für die Imbissstube kochen. Für die Taxifahrer, die Ladenbesitzer, den Tätowierer von nebenan, für Familien, junge Liebespaare und sogar für den Strassenhund, der immer noch auf die Rückkehr seines Besitzers wartet, ist dieses Restaurant ein Refugium, die Verheissung einer warmen Reismahlzeit. Eines Morgens nimmt Herr Kuo auf dem Rückweg vom Markt eine andere Autobahnabfahrt und geht ans Meer.

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