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Ein Dokumentarfilm auf Netflix widmet sich einer ganz besonderen Buchhandlung am Santa Monica Boulevard. Dem Film fehlt der formale Wagemut, er ist jedoch ein vibrierendes Stück Zeitgeschichte.

Circus of Books (2019)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Family Business

Ach, Amerika! Wie riesig, vielfältig und gespalten diese Nation ist, zeigt derzeit schmerzlich die Coronakrise, in der wissenschaftlicher Scharfsinn an politischem Stumpfsinn verzweifelt. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist seit jeher eines der Gegensätze. Rachel Masons Dokumentarfilm über den Buchladen ihrer Eltern führt das kurzweilig und leichtfüßig vor Augen. Ein vibrierendes Stück Zeitgeschichte, vor allem aber ein berührender Familienfilm zwischen Prüderie und Pornografie.

In ihrem Geschäft am Santa Monica Boulevard in West Hollywood hat Rachel Masons Mutter Karen die Hosen an. Während ihr Mann Barry verschmitzt lächelnd gute Laune verbreitet, stiebt Karen mit kritischer Miene durch die Regale. Manchmal komme sie sich vor, als arrangiere sie die Liegestühle auf der Titanic neu, sagt sie mit Blick auf die beständig preisreduzierte Ware, die trotzdem keiner mehr haben will. Die Konkurrenz aus dem Internet ist einfach zu groß. Denn Karen und Barry Mason verkaufen im „Circus of Books“ keine handelsüblichen Bücher, sondern Zeitschriften mit Titeln wie „Handjobs“ und DVDs, auf denen nackte Männer eng umschlungen posieren.

Diesen Buchladen für schwule Pornografie gibt es seit 1960. Er hieß damals noch „Book Circus“ und war neben der Bar „Black Cat Tavern“ ein Szenetreff in Los Angeles und ein Zentrum erster Gay-Pride-Proteste noch vor den Stonewall-Unruhen in New York, wie ein Zeitzeuge stolz zu Protokoll gibt. Das Ehepaar Mason übernahm ihn 1982 aus der Not geboren und eigentlich nur als Übergangslösung. Mit College-Abschlüssen in der Tasche konnten sich die Journalistin Karen und der Spezialeffekteingenieur, Tüftler und Erfinder Barry schlicht nicht vorstellen, den Rest ihres Berufslebens anzügliche Heftchen zu verkaufen. Doch dann antwortete Karen auf eine Zeitungsanzeige des „Hustler“-Herausgebers Larry Flint. Der Rest ist Geschichte, die Rachel Mason mit insistierender Impertinenz und einem Augenzwinkern aufdröselt.

Auf den ersten Blick wirkt diese Geschichte zwar schräg, aber simpel: Ein links-liberales, heterosexuelles und topp ausgebildetes Paar steigt notgedrungen ins Geschäft mit schwuler Pornografie ein. „So what?“, könnte man achselzuckend fragen. Doch selbstverständlich ist das Leben und sind die USA komplizierter. Die Meinungs- und Pressefreiheit ist dort ein hohes Gut, das jedoch von selbst erklärten Moralisten permanent torpediert wird. Unter den Regierungen Reagan und Bush Senior landete Barry wegen seines Ladens beinahe im Knast. Und während Barry nicht nur die Arbeit, sondern auch die Religion locker nimmt, ist Karen tiefgläubig. Bis zuletzt ist ihr der Besuch von Erotikmessen unangenehm. Freunden und Bekannten verschweigt sie ihre wahre Profession. Berufs- und Privatleben, Synagoge und Geschäft sind strikt getrennt.

Lange wussten auch Karens und Barrys drei Kinder nicht, womit zu Hause die Rechnungen bezahlt und später die Hochschulausbildungen der Sprösslinge finanziert wurden. Bei Rückfragen waren die Kids auf eine Standardantwort getrimmt: „Unseren Eltern gehört eine Buchhandlung.“ Was dort wirklich über den Ladentisch ging, bekam Tochter Rachel erst in der Pubertät mit. Urplötzlich hatten ihre bieder wirkenden Eltern eine neue, faszinierende Facette. Doch selbst dieses Wissen hielt Rachels jüngeren Bruder Josh lange davon ab, sich als schwul zu outen. Das Geschäft mit der Pornografie war das eine, Toleranz in der eigenen Familie ist eine andere Sache. Was für ein Zirkus!

Rachel Mason zieht ihren Dokumentarfilm ganz klassisch auf, was angesichts des Themas und ihres beruflichen Hintergrunds – Mason ist Musikerin, Multimedia- und Perfomance-Künstlerin – schade ist. Ihr (Rück-)Blick auf die schwule Subkultur hätte durchaus etwas mehr formalen Wagemut vertragen. Stattdessen präsentiert sie den Werdegang ihrer Eltern im althergebrachten Wechsel aus Interviews und privatem und zeitgeschichtlichem Archivmaterial. Die einnehmenden Protagonist*innen und die überwiegend schräge, in vielen kurzen Passagen berührende Story machen das aber allemal wett.

Eine Karriere, wie sie Karen und Barry Mason hingelegt haben, wäre auch andernorts denkbar, passt aber prima in die Vereinigten Staaten und zu dem Bild, das der Rest der Welt von ihnen hat. So tief hat sich der Mythos eingebrannt, dass es hier jeder vom Tellerwäscher zum Millionär bringen kann. Zwar startete das Ehepaar weder als Niedriglöhner noch häuften sie während ihres Berufslebens ein Vermögen an, dafür war ihr Alltag voll unvorhergesehener Wendungen, schillernder Charaktere und reich an zwischenmenschlichen Begegnungen.

Pornostar Jeff Stryker ist darunter, dessen Filme das Ehepaar Mason zwischenzeitlich produzierte, und viele lieb gewonnene Kunden und Mitarbeiter waren es, die das HI-Virus viel zu früh aus dem Leben riss. Am Ende ist dieser Dokumentarfilm auch einer über Abschiede. Der „Circus of Books“ hat seine Türen am 9. Februar 2019 für immer geschlossen.

Was bleibt, ist die Erinnerung an eine Zeit, in der Abenteuerlustige ihre Bekanntschaften noch in Szenetreffs und nicht via Apps machten, und eine beeindruckende Karriere: Von der Investigativjournalistin zur stolzen LGBTQI*-Aktivistin, vom Spezialeffekte-Mann bei 2001: Odyssee im Weltraum (1968) und Star Trek (1966-1969) zum Mitinhaber des bekanntesten schwulen Pornogeschäfts von Los Angeles – das hätte sich auch Hollywood nicht besser ausdenken können.

Circus of Books (2019)

Jahrzehnte lang betrieb ein jüdisches Paar den Circus of Books, ein Pornogeschäft in der Schwulenszene von L.A. Ihre Tochter führt die Regie über ihre Lebensgeschichte.

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