Chamissos Schatten: Kapitel 2 Teil 2 - Tschukotka und die Wrangelinsel

Eine Filmkritik von Falk Straub

Von Hirschen und Hirten

Ulrike Ottinger hat sich auf die Spuren berühmter Seefahrer und Naturforscher begeben. Im Jahr 2014 reiste sie drei Monate quer durch das Beringmeer. In ihrem beinahe zwölfstündigen Dokumentarfilm Chamissos Schatten setzt sie ihre eigenen Beobachtungen zu denen ihrer Vorgänger in Beziehung. Im zweiten Teil des zweiten Kapitels Tschukotka und die Wrangelinsel trifft sie auf Rentierhirten und fährt entlang der Küste bis in den kargen Norden.
Dort, zwischen Sibirien, Kamtschatka und Alaska, liegt jenes raue Randmeer des Pazifik, das den Namen des Marineoffiziers Vitus Bering trägt. Ulrike Ottinger fängt die schroffe Landschaft dieser Breiten ein, die den Namensgeber Mitte des 18. Jahrhunderts auf einer Expedition das Leben kosteten, und das Publikum spürt, dass der harte Winter, der Berings Mannschaft vor über 200 Jahren zusetzte, die Menschen auch heute noch fordert.

Die Menschen, die Ottinger in den Blick nimmt, leben seit jeher mit und von der Natur. Manche, wie Familie Reftetagin, völlig isoliert auf einem schmalen Küstenstreifen, andere in kleinen Dorfgemeinschaften, die vor der Kamera stolz ihre traditionellen Tänze vorführen. Nach den Meeresjägern aus dem ersten Teil des zweiten Kapitels schaut Ottinger nun Tschukotkas Rentierhirten über die Schulter. Die nehmen ihren beschwerlichen Alltag mit Humor. Im Vergleich zu den Walfängern hätten sie ein einfaches Leben. Schließlich laufe ihr Essen auf vier Beinen herum und vermehre sich munter, während sie schliefen. Mit wenigen Handgriffen fangen sie ein junges Ren, ringen es zu Boden und versetzen ihm einen tödlichen Stich. Historische Fotos und Reiseberichte gleichen Ottingers Gegenwart mit der Vergangenheit ab. Außer der Kleidung hat sich nicht viel verändert. Kommentarlos verweilt die Filmemacherin beim Häuten und Zerlegen der Tiere. Einzig die Gespräche der Hirten und das beständige Tropfen des Regens bilden die Geräuschkulisse bei diesem letalen Schauspiel.

Erneut gelingen Ulrike Ottinger bewegende Aufnahmen von Mensch und Natur. Ganz im Norden auf der Wrangelinsel herrscht ein Klima, das nur Zwergsträucher, Moose und Polsterpflanzen gedeihen lässt. Die wenigen Menschen schützen ihre Häuser mit Gittern vor neugierigen Polarbären, die die Regisseurin allerdings nur ziemlich verwackelt und aus sicherer Entfernung vor ihre Linse bekommt. Wenn eine Gruppe Walrosse synchron zum Meer wogt oder wenn Hunderte Rentiere dicht an der Kamera vorbei auf eine Weide ziehen – eine graubraune Masse, die sich nur unmerklich vom Flussbett absetzt –, versetzt Ottinger ihr Publikum in freudige Erregung.

Die Hirten hingegen bringt selbst die Unbill der Obrigkeit nicht aus der Ruhe. Als der Handel unter den Sowjets zum Erliegen kam, dringend benötigte Güter Mangelware wurden, rückten die Tschuktschen noch näher zusammen. Sie verschwendeten nichts. Aus Fellen machten sie Kleidung, aus Knochen Butter und Suppe für die Hunde. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion haben sie nicht nur den Kontakt zur amerikanischen Seite der Beringsee wieder aufgenommen, auch der Kapitalismus schwappt nach und nach herüber. Das führt zu seltsamen Ansichten. Überbleibsel des Kalten Krieges stehen neben Errungenschaften des Postkommunismus. Im Städtchen Egwekinot künden riesige Gemälde an den Häuserfronten vom Sieg über Nazideutschland, während spielende Jungen Sweatshirts mit US-amerikanischen Motiven tragen. Dass Häftlinge eines Gulags die Siedlung errichteten, verschweigt das örtliche Museum ebenso wie die Zwangsumsiedlungen der Ureinwohner. In Anadyr, der Hauptstadt Tschukotkas, grüßt schließlich die moderne Architektur eines Museums von einem Hügel. Ein Großwildjäger, der bereits eine Lagerhalle, ein Restaurant, ein kleines Kaufhaus und Unterkünfte für Bauarbeiter besitzt, will nun auch noch eine Bowlingbahn errichten. Dieser illustre Unternehmer kommt jedoch nur indirekt zu Wort. Ulrike Ottinger zitiert ihn lediglich aus dem Off. Ein Verfahren, das die Regisseurin im dritten der vier Filme auffällig häufig anwendet. Ob die Zitierten nicht gefilmt werden wollten oder Ottinger dies schlicht versäumte, bleibt offen. Mehr als einmal wirkt der zweite Teil von Tschukotka und die Wrangelinsel dadurch etwas unvollständig. Diese Leerstellen füllen letztlich auch die zahlreichen gelungenen Ein- und Ansichten nicht zur Gänze.


Chamissos Schatten: Kapitel 2 Teil 2 - Tschukotka und die Wrangelinsel

Ulrike Ottinger hat sich auf die Spuren berühmter Seefahrer und Naturforscher begeben. Im Jahr 2014 reiste sie drei Monate quer durch das Beringmeer. In ihrem beinahe zwölfstündigen Dokumentarfilm „Chamissos Schatten“ setzt sie ihre eigenen Beobachtungen zu denen ihrer Vorgänger in Beziehung. Im zweiten Teil des zweiten Kapitels „Tschukotka und die Wrangelinsel“ trifft sie auf Rentierhirten und fährt entlang der Küste bis in den kargen Norden.
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