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Die mexikanische Freikampfszene will möglichst viril erscheinen. Da haben Homosexuelle keinen Platz. Unter dem Künstlernamen Cassandro hat einer von ihnen das Unmögliche gewagt.

Cassandro (2023)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Extravaganz und Oberfläche

Er gilt als der Liberace der mexikanischen Lucha Libre: Saúl Armendáriz. Es gibt ihn wirklich. Sein Leben gleicht einer Legende. Die Französin Marie Losier hat 2018 eine Dokumentation über „Cassandro, the Exotico“ gemacht. Nun ist über ihn dieser US-amerikanische Spielfilm von Roger Ross Williams mit dem mexikanischen Schauspieler Gael Garcia Bernal in der Hauptrolle entstanden. Spielfilme über reale Figuren können ein größeres Publikum erreichen als Dokumentarfilme, erst recht mit einer prominenten Besetzung. Und diese Intention ist hier offensichtlich. Das geht aber leider auf Kosten der Relevanz des ganzen Vorhabens.

Cassandro ist, kurz gesagt, ziemlich versöhnlich und damit zu harmlos. Betrachtet man die Härte des echten Lebens der zu porträtierenden Figur, kann sich nur Enttäuschung über die Entscheidungen des Drehbuchs breitmachen. Die Vermutung ist, dass der Film Mexiko als eines der großen Zielpublikumsländer anvisiert. Man hat sich also nicht getraut, drastischer und offener über Themen wie Homosexualität, Homophobie und physische wie verbale Gewalt gegen Homosexuelle zu sprechen. Das sind aber im Grunde, die wesentlichen Themen, die mit der Figur von Saúl alias Cassandro verbunden sind.

Sie sind im Film nun nicht völlig unsichtbar, sie werden angedeutet. Im Vordergrund der Handlung steht aber Cassandros Beziehung zu seiner Mutter und sein Traum, im Pseudo-Sport der mexikanischen Lucha Libre zu reüssieren. Über letzteren erfährt man einiges Spannendes, wenn man sich bisher noch nicht genauer damit beschäftigt hat. Die Lucha Libre ist ein freies Kämpfen, es funktioniert wie das US-amerikanische Wrestling, nur, dass die mexikanische Form in der Regel weniger ein Sport, sondern eine Unterhaltungsform ist. Der Ausgang der Kämpfe ist im Voraus festgelegt. Indem die Teilnehmer, meist extravagante Masken und Gewänder tragen, dienen sie in erster Linie als Attraktion.

Rein zu diesem Zweck hat man sogenannte Exoticos erlaubt. Das sind Männer, die in Frauenkleider auftreten. Die meisten von ihnen Heterosexuelle. Es gab aber auch homosexuelle Männer, die sich um eine Teilnahme an der Lucha Libre bemühten. Sie wollten aber ernst genommen werden und wie die anderen Karriere machen. Cassandro ist einer von ihnen. Die Widerstände waren in der machistischen, konservativen mexikanischen Gesellschaft sehr groß. In Cassandro bekommt man einen Eindruck, wie sich Saúl mit seiner Hartnäckigkeit nach und nach seinen Respekt verschaffte.

Der Film erzählt die Lebensgeschichte dieses Mannes mit Sensibilität, aber weitgehend auf voraussehbare Weise. Die Etappen könnte man fast blind vorbeten. Erst sucht er sich eine Trainerin, die ihm hilft. Die Mutter ist nicht erfreut, über die wachsende Aufmerksamkeit, der Vater hat die Familie verlassen, weil er mit der sexuellen Orientierung des Sohnes nicht zurechtkommt, Saúl hat eine, natürlich geheime, Beziehung zu einem anderen Mann, der ihn fallen lässt, als Saúl will, dass er offen zu ihm steht, und schließlich kommen die (Teil-)Erfolge.

Um die recht lineare Erzählweise aufzubrechen, bedient sich der Film der Rückblenden, die in die Kindheit von Saúl zurückführen. Diese sind sorgfältig gemacht. Aber auch hier verpasst der Autor das Potenzial, das darin stecken könnte. Man hätte sich vertiefter mit den Themen Kindheitsvorbilder, Generationenkonflikt und das Vererben von Wertevorstellungen auseinandersetzen können.

Darüber hinaus findet Cassandro dennoch immer wieder zu poetischen Einstellungen, die sich durch ein einheitliches Farbkonzept auszeichnen und einer geschickten Verwendung von Musik. Der Film führt einen zweifelsohne an eine höchst interessante Persönlichkeit heran, ohne zu sehr mit seiner Form abzulenken. Doch selbst die souveräne Darstellung durch Garcia Bernal wird der schillernden Natur des Vorbildes nicht gerecht. Der Schauspieler wirft buchstäblich alles in den Ring, was er hat und kann. Aber es liegt an der mangelnden Tiefe der Charakterzeichnung im Drehbuch, dass auch seine Interpretation der Figur an der Oberfläche bleibt. Garcia Bernal ist immer dann besonders eindrücklich, wenn man in einer ruhigen Minute seinem versonnen und gleichzeitig angespannten Blick begegnet.

 

 

 

Cassandro (2023)

Saúl Armendáriz ist ein schwuler Amateur-Wrestler aus El Paso (Texas). Mit der von ihm erschaffenen Kunstfigur des Cassandro, dem „Liberace des Lucha Libre“, erlangt er internationalen Ruhm in der Wrestlingszene. Dabei räumt er nicht nur mit dem Macho-Gehabe in dem Sport auf, sondern der Erfolg stellt auch sein gesamtes Leben auf den Kopf.

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