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85 Jahre und kein bisschen leise: Irmin Schmidt wurde als Gründungsmitglied der Krautrock-Avantgarde-Band „CAN“ weltberühmt. Trotz Huldigungen von David Bowie oder Brian Eno blieb der rastlose Mann stets auf der Suche nach dem neuen Klang. Michael P. Aust hat ihn in „Can and me“ porträtiert. 

Can and me (2022)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

No more fucking Rock ’n’ Roll

„Stille ist eine Metapher. Absolute Stille gibt es nicht. Für mich ist Stille das wichtigste Geräusch.“ Der agile Mittachtziger Irmin Schmidt blickt zu Beginn von Michael P. Austs höchst vitalem Dokumentarfilmporträt „Can and Me“ erstmals umfassend zurück auf sein bewegtes Musikerleben und seine biografischen Wurzeln. Hier in der Abgeschiedenheit der Provence, wo er seit 1980 zu Hause ist, und gleichzeitig in Blickweite zu steinernen Naturwundern um ihn herum entstehen im Kopf des musikalischen Innovators täglich nach dem späten Frühstück neue musikalische Ideen.

Oder Skizzen für Film-Soundtracks, Remixes, Re-Realeases oder überhaupt neuartige Kooperationen mit Opern- wie mit Technolabelmacher*innen rund um den Globus. Denn Stillstand gibt es im nahtlos produktiven Leben des vor allem in England und Frankreich verehrten Komponisten scheinbar zu keiner Zeit. „Ich bin formbesessen“, betont er einmal gegenüber der Kamera. Und gerade deshalb windet er sich abseits gängiger musikalischer Pfade immer wieder in unerhörte Klangbereiche vor, wofür er etwa Schrauben im Baumarkt kauft, um damit sein häusliches Klavier manuell zu stimmen oder schlichtweg dem Geräusch von Kies folgt. 

Gerade in diesen bezaubernden kleinen Szenen, ob beim Spaziergang durch die Natur oder beim Experimentieren mit seinen vielen Instrumenten, ist Irmin Schmidt gänzlich in seiner Materie als musikalischer Alchemist. Es verwundert niemanden, der Can and Me aufmerksam verfolgt, dass David Bowie oder Conny Plank zu seinen Fans zählten und CAN-Sounds inzwischen von keinem Geringerer als Brian Eno geremixed werden: Eine höhere Wertschätzung unter den Klangzauberern der Gegenwart ist kaum vorstellbar. 

Geboren wurde der CAN-Mitbegründer („Spoon“, „I Want More“, „Vitamin C“) 1937 in Berlin als Kind eines überzeugten Nazis und Antisemiten, der für die braunen Machthaber baute. Kein Wunder, dass sich der frühzeitig rebellisch agierende Komponist, Dirigent und Musiker, der sich noch an die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs erinnert, zeitlebens mit ihm zankte und sich mit seiner Art der Kunst, stellvertretend für eine gesamte Generation, gewissermaßen auch an seinem Vater rächte: „Mein Vater hätte gerne gesehen, wenn ich Architekt geworden wäre.“ Stattdessen entschied sich der musikalisch Hochbegabte in der jungen BRD bewusst für einen anderen Berufsweg: Künstler. 

„Mit 14 habe ich meine elektrische Eisenbahn verkauft. Und dafür einen Plattenspieler.“ Somit wurde das musikalische Grundverständnis Irmin Schmidts bereits als Jugendlicher für ebenso ernste wie innovationsfreudige Hausgötter der Musikgeschichte geweckt. Namentlich: für Igor Strawinskys zeitlos modernen Klassiker Le Sacre du Printemps, den er sich als zweite Schallplatte überhaupt kaufte. Genauso wie für Johann Sebastian Bachs emotionsgeladene Matthäuspassion, aus der er in seiner parallelen Karriere als Filmkomponist (z.B. für Sam Fullers legendäre Tatort-Episode Tote Taube in der Beethovenstraße oder Reinhard Hauffs Messer im Kopf) später noch vielfach zitieren sollte. 

Gestartet als aneckender Problemschüler („Ich bin von der Schule geflogen. Ein Jahr vor dem Abitur.“), der seine Nazi-Lehrer in der Schülerzeitschrift mit ihren unrühmlichen Karrieren zwischen 1933 und 1945 konfrontierte, hatte Irmin Schmidt das historische Glück, bei Karlheinz Stockhausen in die Lehre gehen zu dürfen. Der schrieb im Kölner WDR-Funkhaus etwa mit dem Gesang der Jünglinge (1956) Musikgeschichte und scharte umgeben von neuester Aufnahmetechnik zahlreiche Eleven um sich. Darunter auch Holger Czukay (1938-2017), der sich ebenfalls für neue Musik (beispielsweise von György Ligeti) brennend interessierte und einer von Schmidts wegweisenden Kompagnons wurde. 

1968 hoben die beiden extrem aufgeschlossenen Soundtüftler CAN als experimentierfreudigste Band ihrer Generation aufs internationale Parkett. Egal ob repetitive Cluster, handgezupfte Folklore, schräge Synthesizer-Klänge oder improvisierte Gesangsparts: Im politisch linken CAN-Kollektiv war musikalisch niemals etwas ausgeschlossen. Oder um es mit Brian Eno auf den Punkt zu bringen: „Sie waren immer auf der Suche“. 

Der Rest ist jüngere Musikgeschichte und immer noch unglaublich spannend mitanzusehen oder besser gesagt: mitanzuhören, da in Can and Me glücklicherweise genügend Raum fürs pure Zuhören bleibt. Gerade auch deshalb, weil Aust von Irmin Schmidts außerordentlich cooler Ehefrau Hildegard, die CAN managte, erstmals vollen Zugang zu allen Audio- und Videoschätzen der Bandgeschichte bekam. 

Zusammen mit gelb markierten Zwischentiteln, die diese flott montierte und weitgehend chronologisch erzählte Heldenreise eines ewig Unkonventionellen klammern, ist Can and Me nicht nur für Freunde des deutschen Krautrock-Wunders der 1960er und 1970er Jahre eine wahre Wunderkammer. Ergänzt durch kurze Filmsequenzen und markige O-Töne prominenter Weggefährten wie Wim Wenders (Alice in der Städten) oder Roland Klick (im Hinblick auf Deadlock: „In dem Moment, wo man die Musik da draufgelegt hat, hat sich plötzlich dieser kathedralische Raum nach oben gewölbt.“) taucht man ebenso rasch wie innig ein in Irmin Schmidts musikalische Wunderwelt: Hier ist sie hautnah zu erleben, die „Arbeit am Glück“. 

Can and me (2022)

Irmin Schmidt ist das letzte noch lebende Gründungsmitglied von Kölns Krautrocklegenden Can. Daneben hat er eine jahrzehntelange erfolgreiche Karriere als Filmmusikkomponist hinter sich. CAN AND ME zeichnet Leben und Werk des Stockhausen-Schülers nach und interviewt ihn in seiner Wahlheimat in Südfrankreich. Eine besondere Rolle spielt auch seine langjährige Ehefrau Hildegard, die als Managerin von Can und dem Label Spoon Records einen großen Anteil am weltweiten Erfolg der Band auch lang nach ihrer Auflösung hat. Der Film zeigt den Weg vom klassischen Dirigenten über den Schüler von Stockhausen zu CAN, weiter über Filmmusik für Wim Wenders und Roland Klick, Oper bis zur elektronischen Clubmusik. (Quelle: Verleih)

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