Boxhagener Platz

Eine Filmkritik von Claire Horst

Ein Berliner Heimatfilm

Der titelgebende Boxhagener Platz befindet sich heute in einem Berliner Szeneviertel, er ist umringt von Kneipen, Cafés und schicken Läden mit Babykleidung. Zu der Zeit, in der Torsten Schulz seinen gleichnamigen Roman angesetzt hat, sah er noch ganz anders aus. Regisseur Matti Geschonnek, der hier aufwuchs, erinnert sich an einen Ort, „wo noch Brauereifuhrwerke den Kneipen die Bierfässer lieferten“, an Scheren- und Messerschleifer. Zur gleichen Zeit, Ende der 1960er Jahre, spielt sein Film.
Holger (Samuel Schneider), der genau hier, in der Nähe der Kneipe „Feuermelder“, lebt, ist zwölf Jahre alt und verbringt seine Nachmittage bei seiner Oma Otti (Gudrun Ritter), einer wortgewandten und lebenslustigen Frau. „Dass die Kerle auch immer so schnell schlappmachen müssen“, ärgert sie sich, als ihr sechster Mann im Sterben liegt. Der tägliche Friedhofsbesuch gehört zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, neben dem Kochen von deftigen Gerichten. Holger ist immer mit dabei, beim Essen wie beim Unkrautjäten. Denn bei seinen Eltern fühlt er sich nicht wohl. Sie haben kaum etwas gemeinsam und scheinen sich jeden Tag zu fragen, warum sie überhaupt geheiratet haben. Sein Vater Klaus-Dieter (Jürgen Vogel), Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei, nimmt seinen Job sehr ernst – deshalb soll seine Familie sich vorbildlich im Dienste der DDR verhalten. Holgers Mutter Renate (Meret Becker) dagegen hat die Nase voll, von ihrem duckmäuserischen Mann genauso wie von dem ganzen miefigen Land. Nach der Arbeit im Friseursalon geht sie tanzen, um ihren Frust zu vergessen. Lieber als DDR-Fernsehen sieht sie Westsender, die im Jahr 1968 vor allem von den Studentenprotesten berichten.

Bei Otti ist Holgers Welt noch in Ordnung. Sie erklärt ihm, wie man das macht mit dem Männer-Kennenlernen, wie man Kohlroularden isst und wie man für eine gute Verdauung sorgt. Im Nebenzimmer wälzt sich derweil ihr Mann Rudi (Hermann Beyer) hin und her. Der Granatsplitter in seinem Kopf macht ihm zu schaffen. Wenn er sich aber zu sehr ins Gespräch einmischt, knallt Otti die Tür zum Schlafzimmer einfach zu. Von den Männern lässt sie sich nichts sagen. Und trotzdem sind gleich mehrere sehr an ihr interessiert.

Bei ihren täglichen Spaziergängen zum Friedhof wird Otti von zwei Seiten hofiert. Altnazi Fisch-Winkler (Horst Krause) kann sie auch mit seiner schönsten Forelle nicht bezirzen, Karl Wegner (Michael Gwisdek) dagegen versucht es erfolgreich mit Westkaffee, Friederike Kempner-Gedichten und Geschichten aus seiner Zeit als Spartakuskämpfer. Karl, dessen Frau in der Nähe von Ottis Männern liegt, wird bald zu Holgers Vertrautem. Der interessiert sich besonders für die politischen Einsichten, die Karl ihm vermittelt. „Ulbricht? Der stand doch mit Goebbels auf einer Bühne“, diese Erkenntnis erzählt er bei nächster Gelegenheit im Unterricht. Denn mit Geheimnissen kann man die Mädchen beeindrucken. Diese Lehre von Karl funktioniert tatsächlich. Doch es bringt Holger auch in Konflikt mit den Lehrern, die unbedingt wissen wollen, wo er so etwas gehört hat.

So richtig fangen die Konflikte allerdings erst an, als Fisch-Winkler tot in seinem Laden aufgefunden wird, erschlagen mit einer Bierflasche. Hat der Mord etwas mit Oma Otti zu tun? Geht es hier um einen Hahnenkampf zwischen alten Männern? Holger beginnt nachzuforschen. Und auch sein Vater tut sein Bestes, schließlich ist es sein Viertel, und er möchte seine Vorgesetzten beeindrucken. In den nun verwaisten Fischladen zieht währenddessen der „Klub der Volkssolidarität“ ein.

Ganz nebenbei fängt Geschonnek die Atmosphäre im Ostberlin der 1960er Jahre ein. Berichte über die „erfolgreiche Niederschlagung der Konterrevolution“ in Prag, das Coming Out von Ottis „hormonsexuellem“ Sohn Bodo (Milan Peschel) ausgerechnet auf einer schief gegangenen Begräbnisfeier, die dörfliche Atmosphäre mitten im Friedrichshainer Kiez zeigen ein Berlin, das weit entfernt ist von der glamourösen Erscheinung, die man heute mit der Gegend verbindet.

Den Boxhagener Platz selbst konnten die Filmemacher nicht zeigen – von Sechziger-Jahre-Flair ist dort keine Spur mehr zu finden. Doch dem preisgekrönten Szenenbildner Lothar Holler (Der Laden, Sonnenallee, Good Bye, Lenin!) ist ein authentisches Ambiente gelungen, das vielleicht stellenweise etwas zu geleckt aussieht, so hübsch drapiert sind die alten Mülltonnen vor den unsanierten Altbauten. Gedreht wurde neben Berlin auch in Halle, Dessau und im Studio Babelsberg – in Berlin gibt es kaum noch eine passend verfallene Straße.

Das bis in die kleinsten Nebenrollen (wunderbar sind die Kneipiers und Gäste im Feuermelder) hochkarätig besetzte Ensemble macht den Film – eigentlich eine nette, aber harmlose Geschichte – zu etwas Besonderem. Jürgen Vogel als verdruckster Spießer, die wasserstoffblond toupierte Meret Becker und vor allem die hervorragende Gudrun Ritter, die jahrzehntelang am Berliner Deutschen Theater spielte, machen einfach Spaß.

Ein Berliner Heimatfilm ist es geworden, in dem ordentlich berlinert wird. Der Kiezcharakter der Gegend um den Boxhagener Platz spielt eigentlich die Hauptrolle – weiter als zwei, drei Straßen bewegt sich hier niemand weg. Dass der Film auf der Berlinale Premiere feierte, ist da nur angemessen.

Boxhagener Platz

Der titelgebende Boxhagener Platz befindet sich heute in einem Berliner Szeneviertel, er ist umringt von Kneipen, Cafés und schicken Läden mit Babykleidung. Zu der Zeit, in der Torsten Schulz seinen gleichnamigen Roman angesetzt hat, sah er noch ganz anders aus.
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Meinungen

wiganek-hp · 03.10.2010

Eigentlich sollte der Film einer der Höhepunkte meines Berlinalebesuches werden. Dann wurde er aber fast die größte Enttäuschung. Woran es letztlich lag, weiß ich nicht genau. Waren es die doch teilweise flachen Figuren, war es die Geschichte, die nicht wirklich fesselte und stellenweise ins Tümelnde abzurutschen drohte? Das Ambiente stimmte zwar, aber das reicht nicht.

Der Trailer versprach definitiv zu viel, was der Film nicht halten konnte oder auch nicht wollte. Vielleicht war es meine Erwartungshaltung, die durch den Trailer geweckt, mehr Konflikt und weniger Heimatfilm erwartete. So verließ ich das Kino ein wenig ratlos. Was war jetzt eigentlich der Kern der Geschichte?

Kein Freund von Guido Knopp · 06.04.2010

Goebbels und Ulbricht standen gemeinsam auf einer Bühne, aber nicht als Kampfgenossen, wie vom Film in Schlüsselszenen suggeriert, sondern als Diskussionsgegner.
Die Veranstaltung endete im Übrigen mit einer blutigen Auseinandersetzung zwischen KPD-Anhängern und Nazis.
Siehe u.a. www.zeit.de/1969/40/Was-geschah-in-Friedrichshain

@Anna Schmidt · 14.02.2010

Danke für den superfreundlichen Hinweis. Muss wohl unsere Dummheit gewesen sein. Mike

Anna Schmidt · 14.02.2010

Die Hauptdarsteller in diesem Film sind Oma Otti und ihr Enkel, aber weder der eine noch der andere Name (Darsteller) taucht in ihrer Liste auf.Warum, weil Ihnen die Namen fremd sind oder einfach Dummheit?