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Am Beginn der 1980er Jahre sorgen in der Schweiz zwei Themen für Schlagzeilen. Zum einen sind es die Zürcher Proteste der Jugendbewegung und der Kampf für eine liberalere Justiz. Zum anderen sind es die Gefängnisausbrüche eines Kriminellen, den der Zeitgeist zum Revolutionär wider Willen kürt.  

Bis wir tot sind oder frei (2020)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die Anwältin und der Ausbrecher

Barbara Hug (Marie Leuenberger) vertritt 1980 in Zürich als engagierte Anwältin Personen aus der linksautonomen Jugendbewegung, Freigeister und Anarchist*innen. Ihr Ziel ist es, das repressive schweizerische Justizsystem und seinen Strafvollzug zu reformieren. Die kämpferische Identifikationsfigur, die dem sozialrevolutionären linken Widerstand in der Schweiz fehlt, glaubt sie bald auch gefunden zu haben: Ausgerechnet der als „Ausbrecherkönig“ berühmte und nicht unpopuläre Bankräuber und Autodieb Walter Stürm (Joel Basman) soll „unser Che“ werden, schwärmt die Juristin ihren Kollegen aus dem reformerischen Anwaltskollektiv vor.

Der in Berlin lebende Regisseur Oliver Rihs (Schwarze Schafe) wirft mit diesem Drama einen Blick auf die wilden Zeiten des Aufruhrs und der Straßenproteste in seiner schweizerischen Heimat. In den 1980er Jahren demonstrieren Linksautonome auch gegen die Isolationshaft und fordern vehement die Freilassung des Ausbrecherkönigs. Diese ungewöhnliche Allianz, für die sich Barbara Hug stark macht, hat nur einen Haken: Der Kriminelle Walter Stürm – wie seine Anwältin eine reale Person jener Ära – ist gänzlich unpolitisch. Inspiriert von Reto Kohlers Biografie Stürm – Das Gesicht des Ausbrecherkönigs, spürt der Film einer Aufbruchstimmung nach, die zwischen Entschiedenheit und Chaos pendelte und die unterschiedlichsten Charaktere vorübergehend zusammenbrachte. Emotionale Würze erhält die Geschichte durch die romantischen Hoffnungen, die die Filmfigur Barbara gegenüber Walter hegt, während er ihr über weite Strecken doch ein Rätsel bleibt. 

Freiheit ist der große thematische Begriff dieses Films, und er nimmt sie sich auch im Umgang mit den realen Ereignissen, indem er verdichtet, weglässt, hinzuerfindet. Barbara und der von der Polizei gesuchte Walter fahren über die Grenze nach Deutschland, zur Anwältin Meret Spengler (Bibiana Beglau). Die Tochter eines SS-Mannes wohnt mit einem linksalternativen Kollektiv, das Kontakte zur Roten Armee Fraktion (RAF) pflegt, in der geerbten elterlichen Villa. Dort soll Walter Unterschlupf finden, aber wie immer hält es ihn nicht lange an einem Ort. Meret ist eine fiktive Figur, welche die Verbindungen repräsentiert, die es zwischen den deutschen und den schweizerischen linken Kreisen gab. Als Walter später, erneut in Haft, in Hungerstreik tritt, will ihn die linksradikale Szene zum Märtyrer stilisieren, der im Kampf gegen einen repressiven Staat stirbt. Barbara aber ist Walter als Mensch inzwischen wichtiger denn als Heldenfigur. Sie sorgt aggressiv dafür, dass Meret und ihr Umfeld eine gewaltsame Gefangenenbefreiung organisieren. 

Auf der spanischen Insel La Gomera treffen Barbara und Walter danach wieder zusammen. Die Begegnung beschert der Anwältin eine emotionale Achterbahnfahrt. Erst trägt Walter sie auf Händen ins Meer und nimmt der Nichtschwimmerin die Angst vor dem Wasser. Dann wirft er sie aus dem Auto und verschmäht die Freiheit, die er ihr zu verdanken hat, mit den Worten, Freiheit könne man nicht schenken. Er lässt sich wieder inhaftieren. Beide Charaktere sind von einer unglücklichen Kindheit gezeichnet, er wurde vom Vater verstoßen, sie muss zur Dialyse und benutzt beim Gehen eine Krücke. Eine unbestimmte Todessehnsucht oder zumindest ein Hang zur Selbstzerstörung scheint beiden anzuhaften. Darin hallt auch der rebellische Geist aus Easy Rider nach, wie er sich in der Flower-Power-Ära an der Utopie der Freiheitsideale abarbeitete. 

Zu Barbaras Kummer liebt Walter eine Zeitlang ihre junge Klientin Heike (Jella Haase). Wie spontan, impulsiv und unbekümmert diese rebellischen Geister zuweilen agieren konnten, ohne Rücksicht auf Verluste, zeigt sich in einer starken Filmszene. Mit der linken Aktivistin Heike fährt Walter nach Istanbul, doch schon an der schweizerisch-italienischen Grenze in den Alpen kommt es zum Streit. Vor den Augen des Grenzers trennt sich das Paar lautstark und Heike ruft, er solle doch zu den Roten Brigaden gehen. Das Ganze endet damit, dass der Grenzbeamte Walter eine Kugel in den Bauch jagt. Die Beziehung von Barbara und Walter ist weniger stürmisch und entwickelt im Wechsel von Distanz und freundschaftlicher Annäherung eine gewisse Stabilität, die beiden Halt zu geben scheint. Diesen beiden Menschen gehört das romantisch-melancholische Lied Salut von Joe Dassin, das immer wieder erklingt, wenn sie zusammen sind. 

Im Bestreben, die Ära als wild und aufgeraut zu schildern, wirkt der Film zuweilen etwas reißerisch. Barbaras aggressive Wortwahl im Beruf – „Hör auf mit deinem Relativierungsgewichse!“, fährt sie einen Kollegen an –, steht im Widerspruch zu ihrer Verletzlichkeit. Marie Leuenberger meistert den Spagat einigermaßen, wobei ihr die empfindsamen, stillen Momente besser gelingen. Manchmal stellt sich die einsame Barbara vor dem Spiegel stumm die Frage, ob sie attraktiv genug für die Liebe ist. Oft ist sie in ein Halbdunkel getaucht. Die Handkamera und die Montage transportieren jedoch ansonsten gerne das hektische Lebensgefühl der Figuren. Wenn Walter aus dem Gefängnis ausbricht, lässt sich das Geschehen manchmal im Schnipselsalat der Bilder nicht mehr richtig erkennen, höchstens noch erahnen. 

Wie die Charaktere Kampfgeist und Romantik individuell ausbalancieren, wie sie Irrtümer erkennen und ihre Ziele korrigieren, davon erzählt der Film allerdings zu wenig. Sowohl Barbara, als auch Walter bleiben als Persönlichkeiten unklar, ihre innere Entwicklung unscharf. Es fällt folglich schwer, mit ihnen mitzufiebern oder sich ihnen nahe zu fühlen. Im Epilog erst verfestigt sich eine Ahnung, was Walter, der bis zuletzt unergründlich wirkt, Barbara gegeben haben könnte. Und dann weht doch noch eine sommerlich warme Brise durch diese Geschichte, deren Verdienst vor allem darin besteht, einem deutschen Publikum zu vermitteln, wie bewegt die 1980er Jahre in Zürich waren.

Bis wir tot sind oder frei (2020)

Im Zentrum der Geschichte stehen die linke Anwältin Barbara Hug, die das rückständige Schweizer Strafrecht von Grund auf ändern will, der charismatische Ausbrecherkönig Walter Stürm, der – wie die rebellische Jugendliche Heike – immer wieder mit dem Justizsystem aneinandergerät. Und ausgerechnet Stürm, der keiner Ideologie anhängt, wird in linksrevolutionären Kreisen zum Symbol für Freiheit und die Würde des Einzelnen – und zum Objekt der Begierde zweier ungleicher Frauen. Im Spannungsfeld zwischen persönlicher Freiheit und staatlicher Repression entwickelt sich eine leidenschaftliche Dreiecksgeschichte.  

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