Between the Lines - Indiens drittes Geschlecht

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die irritierende Freiheit der Uneindeutigkeit

Auch wenn sich die Frage nach der Identität einer Person zunehmend komplexer gestaltet, so gibt es bei aller Verwirrung doch für die allermeisten Menschen zumindest die Zuflucht zu einer sicheren Eindeutigkeit für das, was sie sind: das Geschlecht. Doch die indischen Hijras versagen sich selbst diese Orientierung, weshalb diese Menschen ohne klar definierte weibliche oder männliche Identität nicht selten auch als „Indiens drittes Geschlecht“ bezeichnet werden.
Meist negativ besetzte Begriffe westlicher Prägung wie Eunuch, Kastrat oder Zwitter beschreiben völlig unzureichend eine Person, die in Indien als Hijra bezeichnet wird. Die Mehrheit dieser Wandlerinnen zwischen den Geschlechtern ist in häufig streng hierarchischen und stark religiös orientierten Gruppen um einen Hijra-Guru organisiert, ohne deren Rückhalt sie auf Grund weit gehender sozialer Diskriminierung kaum existieren können und innerhalb welcher sie auch Schutz vor gewalttätigen Übergriffen erhalten, die dennoch nicht gänzlich vermieden werden können. Ihre Kleidung ist weiblich, doch ihre Gestalt weist häufig männliche Züge wie starke Behaarung auf, und ihr öffentliches Auftreten ist meist sexuell exaltiert und provokant und innerhalb der indischen Gesellschaft so gefürchtet wie unvermeidlich. Da ihre Bildung in der Regel äußerst unzureichend ist und ihnen ein gewöhnliches Leben auf Grund der gesellschaftlichen Stigmatisierung verschlossen bleibt, verdienen sich die Hijras ihren Lebensunterhalt durch Tanz, Segnungen bei Hochzeiten und anderen feierlichen Anlässen und nicht selten als Prostituierte, denn in diesen Nischen werden sie toleriert und üben auch auf bürgerliche Personen bei Zeiten neben heftigen Ressentiments durchaus eine starke Anziehung aus. Trotz ihrer gesellschaftlichen Ächtung werden ihnen spirituelle und mystische Fähigkeiten zugeschrieben, und in der hinduistischen Mythologie haben sie ebenso ihren Platz wie in muslimischen Traditionen, wo sich ihre historische Position weitaus positiver gestaltete als im Kastenwesen. In den Gesellschaften Südasiens leben heute grob geschätzt 700 000 bis mehrere Millionen von Hijras, die trotz eines immer noch oft praktizierten Kastrationsrituals überwiegend eine eindeutige Entscheidung der geschlechtlichen Orientierung ablehnen.

Für seinen ersten Dokumentarfilm für die Kinosäle begibt sich der erfahrene deutsche Reisejournalist und Regisseur Thomas Wartmann, der bisher über 25 viel beachtete und zum Teil mit internationalen Preisen ausgezeichnete Reportagen und Dokumentationen für das Fernsehen realisiert hat, nach Indien, um ein bewegtes Bild jener Außenseiter der Gesellschaft zu zeichnen, deren Schicksal es ist, weder Frau noch Mann zu sein. Between the Lines schildert anhand dreier Porträts den skurrilen Alltag der Hijras in Bombay zwischen „Mystik, Spiritualität und Prostitution“, wie der Untertitel des Films bereits ankündigt.

Da ist zunächst Laxmi, die einerseits als junger Mann mit Namen Raju Choreographien für Bollywood-Filme entwirft und ein recht gewöhnliches Leben im Hause ihrer Eltern in der Vorstadt von Bombay führt, auf der anderen Seite aber als ungezähmte, lärmende und schrille Prostituierte erfolgreich um Macht und Anerkennung innerhalb einer Hijra-Gruppe kämpft. Wir begegnen der verführerischen Rambha, einer nächtlichen Gogo-Tänzerin, die im Alter von zehn Jahren kastriert wurde, in einem Tempel lebt und tagsüber bettelnd durch die indische Metropole streift. Sie ist beseelt von dem innigen Wunsch, genug Geld zu sparen, um auf dem legendären Hijra-Festival im südindischen Koovagam, das jährlich in der letzten Aprilwoche stattfindet, ihren Freund zu heiraten. Asha schließlich hat 17 Jahre lang als Hure gearbeitet und ist nun zumeist an den Stränden außerhalb der Stadt unterwegs, um gegen eine kleine finanzielle Zuwendung Liebespaare zu segnen – ein traditionelles Geschäft des dritten Geschlechts – oder aber auch zu verfluchen, falls ihre ungerufene Anwesenheit auf Ablehnung stößt.

Neben diesen drei Hijras treffen wir auf die indische Photographin Anita Khemka, die auf der Suche nach authentischen Bildern auch jenseits der typischen Klischees gemeinsam mit dem deutschen Regisseur in die häufig so gegensätzliche Welt dieser kultischen Zwischenwesen eintaucht. Sie ist es, die es als Inderin dem fremden Dokumentarfilmer überhaupt erst ermöglicht, näheren Zugang zum dritten Geschlecht ihrer Gesellschaft zu finden, denn seine anfänglichen Bemühungen, als europäischer Mann einen Film über diese Menschen und ihr Leben zu drehen, blieben unbefriedigend und flüchtig. Durch die Vermittlung und das ebenso offensive wie sensible Vorgehen von Anita Khemka aber, die er als Komplizin für sein Projekt gewinnen kann, gelingt es Wartmann, seinen Protagonistinnen ungewöhnlich nah zu kommen und gemeinsam mit ihnen starke und unruhige Porträts einzufangen anstatt schlicht über sie zu berichten.

So zeichnet sich Between the Lines, der mit deutschen Untertiteln gezeigt wird, durch seine packende Unmittelbarkeit und mitunter schwindelnde Intensität aus, die den in diesen Themenbereichen üblichen lüsternen Voyeurismus weit gehend vermeidet. Allerdings kommen bei dieser Form der Darstellung bei Zeiten die distanzierten Hintergrundinformationen ein wenig zu kurz, die sich manch ein Zuschauer auf Grund der Komplexität dieses Themas und seiner Geschichte wünschen mag. Dies schmälert jedoch selten das eindrucksvolle Dokument dieses dritten Geschlechts, das sich selbst keineswegs als ausschließlich unterprivilegiert betrachtet, sondern seine freiheitlich geprägte Sonderstellung durchaus auch zu kultivieren versteht. „Ich hoffe, als Hijra wiedergeboren zu werden, nicht als Mann, und nicht als Frau“, bekennt die Gogo-Tänzerin Rambha, trotz aller Widrigkeiten und Tragik, die ein Leben als Hijra mit sich bringt.

Between the Lines - Indiens drittes Geschlecht

Auch wenn sich die Frage nach der Identität einer Person zunehmend komplexer gestaltet, so gibt es bei aller Verwirrung doch für die allermeisten Menschen zumindest die Zuflucht zu einer sicheren Eindeutigkeit für das, was sie sind: das Geschlecht.
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Meinungen

Gina · 03.02.2007

Bei amazon.de ist der Film ab März 2007 lieferbar

Maya · 30.10.2006

leider finde ich nicht heraus in welchen Städten dieser Film läuft da es keine genauen Angaben diesbezüglich gibt. Da ich selbst Inderin bin brenne ich darauf mir diese Dokumentation anzuschauen, hoffe mir kann jemand weiterhelfen...kann man den Film sich denn schon irgendwo ausleihen?!

· 07.10.2006

in welchen städten läuft der film ?

Pia · 17.09.2006

Hallo Claudia,
in Köln läuft der Film noch bis Mittwoch im Filmhaus in der Maybachstrasse (Innenstadt).

Claudia · 16.09.2006

leider finde ich nicht heraus, in welchen Städten dieser Film gezeigt wird !

Wer kann mir helfen

Katja · 12.09.2006

sehr beeindruckend! ich war anfang 2006 selber in indien. der film zeigt neben dem leben der hijras noch viel mehr - die indischen lebensumstände. sehr sehenswert

andrea · 06.09.2006

dieses thema interessiert mich schon seit langen und darum war ich auch sehr gespannt auf diesen film. leider läuft dieser nur in ausgewählten städten in den alten bundesländern, so dass ich nicht die möglichkeit habe, mir diesen anzuschauen. kommerz siegt wieder mal über alles andere....