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In seinem neuen Dokumentarfilm rückt Bernhard Sallmann Berlins Ränder ins Zentrum. Ein einmaliges Erlebnis.

Berlin JWD (2022)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Das Rauschen an den Rändern

Hinter der Abkürzung „jwd“, das wissen nicht nur eingefleischte Hauptstadtmenschen, verbirgt sich der Berolinismus „janz weit draußen“. Dort, wo sich Fuchs und Hase einst gute Nacht sagten und das Proletariat in seiner Freizeit hinfuhr, steht heute häufig Industrie. Der Filmemacher Bernhard Sallmann ist hingefahren, hat seine Kamera hingestellt und auf den Aufnahmeknopf gedrückt.

Die Filme von Bernhard Sallmann minimalistisch zu nennen, wäre eine Untertreibung. In Träume der Lausitz, seinem Dokumentarfilm über die titelgebende Region, kamen noch Einheimische zu Wort, in seiner Tetralogie über Theodor Fontanes fünfbändiges Werk Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1889) waren dann nur noch die Worte des Dichters zu hören, während Sallmann die von Fontane beschriebenen Landschaften und Gebäude zeigte – nicht selten minutenlang in ein und derselben Einstellung. In Berlin JWD erkundet der 1967 in Linz geborene und in Berlin lebende Filmemacher nun die Ränder der deutschen Hauptstadt. Gesprochen wird diesmal kein einziges Wort.

Zumindest kein ans Kinopublikum gerichtetes. Gehen dort, wo Sallmann seine Kamera aufstellt, Menschen durchs Bild, sind mitunter Fetzen der Wörter zu vernehmen, die sie miteinander wechseln. Ansonsten herrscht Stille, begleitet vom Rauschen des Windes und vom vorbeirauschenden Straßenverkehr. 

Die Dialoglosigkeit bietet Gelegenheit, über das Gesehene nachzudenken. Die Orte, die Sallmann hier präsentiert – von der Spree Teltow Pyramide über den zugefrorenen Hafen Neukölln und den eisfreien, weil während einer anderen Jahreszeit gefilmten Westhafen bis zur Bogenspannerin am Nikolassee –, lagen Ende des 19. Jahrhunderts noch hinter der Stadtgrenze und dienten den Großstädter:innen als Ausflugsziele und Naherholungsgebiete. Heute sind sie vornehmlich industriell geprägt. Fabrikgebäude wechseln sich mit Straßen, Brücken und Hochspannungsleitungen ab. Außer einem in Berlin lebenden österreichischen Filmemacher dürfte kaum jemand einen Ausflug hierher unternehmen.

Augenfutter sieht anders aus. Und doch werden einem die kurzen 74 Minuten nie lang. Die Symmetrie in Sallmanns Bildern hat durchaus ihren ästhetischen Reiz. Und bald beginnt man sich zu fragen, was sich hinter den Mauern der Gebäude, die der Regisseur stets nur von außen zeigt, aber niemals betritt, wohl verbergen mag oder wie lang diese Bauten hier schon stehen. Manche sind ausgesprochen schön (zumeist die älteren), andere hässlich (zumeist die neueren), was Fragen über unser ästhetisches Empfinden im Wandel der Zeit aufwirft. 

So unvermittelt dieser Fim beginnt, endet er auch. Berlin JWD ist ein einmaliges Seherlebnis, aber eben auch ein Film, den man kein zweites Mal sehen muss.

Berlin JWD (2022)

Eine Winterreise nach (J)anz (W)eit (D)raußen oder JWD, wie man in Berlin sagt. Die märkischen Landschaften hinter der Stadtgrenze wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von proletarischen Erholungssuchenden überrannt. Kurz darauf fraß der Moloch Großstadt die scheinbar unschuldige Idylle: Gentrifizierung Neunzehn Punkt Null. Seitdem wechseln Um‑, Ab- und Aufbrüche in nicht vorhersehbarer Folge. Wie Exkremente einer vergangenen Zukunft liegen die ehemaligen Rieselfelder, zerfallenen Grenzanlagen, aufgelassenen Fabriken, angefangenen Verkehrswege, neuen Siedlungen und begrünten Müllberge in der Landschaft verstreut. Der nie gänzlich verklingende Straßenlärm und die Verbrennungsmotoren unserer Tage tönen heute schon wie ein totes Echo von morgen. Klein wirken die Menschen zwischen den Zeichen ihrer Existenz. Doch bei aller Kälte wärmt die Sonne, sprießen die Knospen und zwitschern die Vögel. Ein jeder Winter kennt den Frühling. (Quelle: Krokodil Verleih)

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