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„Aznavour by Charles“ ist ein Bilder- und Gedankenstrom, der uns die Welt mit den Augen des Sängers Charles Aznavour erleben lässt.

Aznavour by Charles (2019)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ans Licht gebracht

Der armenisch-französische Chansonnier und Schauspieler Charles Aznavour (1924-2018) galt schon zu Lebzeiten als Legende. Er nahm mehr als 1000 Chansons auf, von denen er einen Großteil selbst geschrieben hatte, und wirkte in Filmen wie François Truffauts „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960), Claude Chabrols „Die verrückten Reichen“ (1976) oder Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ (1979) mit. Als Filmemacher kannte man ihn bisher indes nicht. Doch nun erscheint mit „Aznavour by Charles“ ein „Film von Charles Aznavour“, wie es im Vorspann heißt – „realisiert von Marc di Domenico“.

Der Hintergrund zu diesem dokumentarischen Werk ist, dass Aznavour dem Regisseur di Domenico im Jahre 2017 seine Schätze zeigte, die er in einer Geheimkammer seines Hauses verwahrt hatte: unzählige, zuvor noch von niemandem gesehene Filmrollen. Nachdem ihm die berühmte Sängerin Édith Piaf 1948 eine Kamera geschenkt hatte, hatte Aznavour ununterbrochen gefilmt, im Stil eines Zelluloid-Tagebuchs. Mit den Worten „Vielleicht weißt du was damit anzufangen“ wurden di Domenico die Aufnahmen übergeben – und dieser hat daraus eine sehr persönliche Bilder-Collage gemacht, unterlegt mit Aznavours Worten, die aus dessen Memoiren, aus Gesprächen mit ihm sowie aus schriftlichen Notizen stammen. Eingesprochen hat sie der Schauspieler Romain Duris.

Das alles fügt sich zu einem überaus einnehmenden audiovisuellen Fluss zusammen, der mit seinem Hang zur Melancholie perfekt in Aznavours Œuvre passt. Ohne in ein pflichtschuldiges Abhaken der Lebensstationen von Aznavour zu verfallen, erzählt uns der Film viel von dessen Werdegang – etwa wie es war, als Kind von Eingewanderten in armen Verhältnissen in Paris aufzuwachsen. Auch das Verstreichen von Zeit wird treffend erfasst: „In einem Augenblick bin ich zehn, im nächsten schon 20 Jahre alt.“ Duris spricht diese Gedanken und Erkenntnisse stets mit ruhiger, bedachter Stimme.

Ähnlich wie in Tom Volfs Maria by Callas (2017) über die Opernsängerin Maria Callas (1923-1977) wird hier nicht über einen Menschen gesprochen, sondern dieser kommt selbst zu Wort. Respektvoller kann man dem Leben einer öffentlichen Person wohl kaum gedenken. „Euer Blick hat aus mir Aznavour gemacht“, heißt es an einer Stelle. In Aznavour by Charles wird der Künstler sowohl auf der Bild- als auch auf der Tonebene zum Subjekt, das uns an seiner Sicht teilhaben lässt.

Wir erhalten reizvolle Einblicke hinter die Kulissen von Konzerten und Filmdrehs. So sind wir beispielsweise dabei, wie Aznavour mit seinem guten Freund Lino Ventura unter der Regie von Denys de La Patellière am Set des Antikriegsfilms Taxi nach Tobruk (1961) aktiv ist. Auch die Eindrücke von Reisen nehmen viel Raum ein – sei es nach Dakar oder nach New York City. Viele Überlegungen und Aufnahmen drehen sich zudem um die Liebe, um Aznavours Ehen, die in die Brüche gingen, und um die nach jeder schmerzlichen Trennung wieder aufflammenden Gefühle. Mit seiner Freundin Evelyne Plessis, die ihn nach New York begleitete, kommt es zu einem Dialog – und es könnte auch ein herzzerreißendes Duett aus Aznavours Feder sein. Die Schwedin Ulla Ingegerd Thorssell heiratete er später in Las Vegas; sie teilte Aznavours Vorliebe für ein Jetset-Dasein.

Und ganz plötzlich und sehr intim ist auch von der Trauer zu hören, die Aznavour empfand, als sein Sohn Patrick im Alter von nur 25 Jahren 1976 durch Drogenkonsum starb. Dazu sehen wir Fotografien, die Aznavour von seinem Sohn gemacht hat. „Meine Bilder habe ich, im Gegensatz zu meinen Liedern, nie ans Licht gebracht“, bemerkt Aznavour an einer Stelle. Es ist erfreulich, dass dies nun posthum geschehen ist.

Aznavour by Charles (2019)

Es war das Jahr 1948, als Edith Piaf Charles Aznavour eine Paillard-Bolex Kamera anbot, es war die erste, die er jemals besaß — und sie sollte stets in seinem Besitz bleiben. Bis 1982 filmte Aznavour täglich mit ihr viel Stunden an Material, die die Grundlage eines filmischen Tagebuchs wurden. Charles Aznavour filmte sein Leben und lebte, als würde er einen Film drehen.

 

 

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