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Zwei Jahre nach seiner Weltpremiere beim Sundance Film Festival 2020 startet Jerry Rothwells Dokumentarfilm in den deutschen Kinos. Der Film, der auf dem Bestseller von Naoki Higashida beruht, ist nicht nur Eltern autistischer Kinder zu empfehlen.

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die Welt durch andere Augen sehen

Autismus ist nicht gleich Autismus. Das Spektrum ist breit. In Film und Fernsehen werden Menschen mit Autismus gern als Sonderlinge mit genialer Begabung dargestellt. Barry Levinsons Hollywood-Drama „Rain Man“ lässt grüßen. Von der Lebensrealität der porträtierten Menschen in Jerry Rothwells Dokumentarfilm könnte das kaum weiter entfernt sein.

Rothwell nimmt fünf junge Menschen rund um den Globus in den Blick. Die Jugendlichen leben in Indien, England, den USA und Sierra Leone. Sie sind sogenannte nonverbale Autisten, was bedeutet, dass sie nicht durch gesprochene Sprache kommunizieren können. Gleichzeitig bedeutet das aber nicht – wie es jahrhundertelang in Europa fälschlicherweise angenommen wurde und in anderen Regionen der Welt bis heute angenommen wird –, dass diese Menschen nicht Mittel und Wege haben, sich der Welt mitzuteilen. Rothwells Film stellt diese Möglichkeiten vor.

Die Ausgangsidee lieferte ein Buch: ‎Naoki Higashidas The Reason I Jump, das in der deutschen Übersetzung den etwas umständlichen Namen trägt Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann. Higashida, 1992 im japanischen Kimitsu geboren, kann mit seiner Umwelt nur schriftlich verkehren. Mit gerade einmal 13 Jahren verfasste er sein erstes Buch, das der Außenwelt zu erklären versucht, was in seinem Inneren vorgeht. 

Die Produzenten Stevie Lee und Jeremy Dear, selbst Eltern eines autistischen Kindes, dem im Film porträtierten Joss, hatten Higashidas Buch gelesen und wollten es verfilmen. Als Jerry Rothwell als Regisseur hinzustieß, hatte er sofort Interesse. Der preisgekrönte Filmemacher (Deepwater, How to Change the World, Sour Grapes) hatte mit Heavy Load (2008) bereits einen Dokumentarfilm über eine Punkband gedreht, deren Mitglieder zum Teil Autist:innen sind. Ein Biopic war aus diversen Gründen jedoch schnell vom Tisch. Und auch für einen Dokumentarfilm stand der kamerascheue Naoki Higashida nicht zur Verfügung. Im fertigen Film ist er trotzdem zu finden. Denn herausgekommen ist ein Film, der Higashidas Gedanken und Gefühle mit denen anderer Autist:innen virtuos verflicht.

An des Autors statt führt ein kleiner Junge, der Higashidas jüngeres Ich verkörpert, durch diesen Film. Der Regisseur schickt ihn bei Wind und Wetter vor die Tür. Und während aus dem Off ein Erzähler Stellen aus dem Buch rezitiert, erhält das Publikum einen Eindruck davon, wie all die mitten in der Natur gesammelten Sinneseindrücke auf den Jungen wirken. Kameraeffekte und 360-Grad-Tonaufnahmen sorgen im Kinosaal für ein audiovisuelles Rundum-Erlebnis.

Im Zentrum stehen jedoch die porträtierten Protagonist:innen, deren Lebenswelten mit den aus dem Off gehörten Beschreibungen korrespondieren. Mit ihrer anderen Weltwahrnehmung, die nicht-autistischen Menschen auf den ersten Blick wie ein Mangel vorkommen mag, gehen sie ganz unterschiedlich um. Amrit malt, Joss tobt sich auf dem Trampolin aus, die besten Freunde Ben und Emma spielen Eishockey, Jestina geht mithilfe ihrer Eltern gegen Vorurteile an. Was sie alle eint, ist die Teilhabe an einer Welt, die vielen anderen Autist:innen bis heute verwehrt wird. 

So positiv die Botschaft dieses Films auch sein mag, er bleibt stets realistisch. Dass der Alltag eines autistischen Menschen voller Herausforderungen steckt und dessen Umfeld viel abverlangt, davor verschließt Jerry Rothwell nicht die Augen. Der Kampf für Inklusion ist ein Knochenjob. Rothwells Absicht hinter seinem Film ist simpel: „Ich hoffe, dass der Film dazu beiträgt, unsere Vorstellung von nonverbalen Autisten, die nicht auf unsere neurotypische Art kommunizieren, zu verändern“, sagt der Regisseur in einem Interview. Die Chancen darauf stehen gut. Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann ist ein echter Augenöffner.

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann (2020)

Basierend auf dem Buch von Naoki Higashida erkundet der Film die Erfahrungswelt von nicht-sprechenden Autist*innen rund um den Globus.

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