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Vier junge Schweizerinnen und Schweizer, die im Atlasgebirge klettern wollen, werden in einem marokkanischen Straßencafé Opfer eines Bombenanschlags. Nur Allegra überlebt, schwer traumatisiert. Das Drama des Regisseurs Niccolò Castelli beobachtet wie sie versucht, zurück in den Alltag zu finden.

Atlas (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Das Trauma einer Überlebenden

Allegra (Matilda De Angelis) steht strahlend vor Glück auf einem Berggipfel in den Alpen. Die anspruchsvolle Klettertour mit ihrem Freund Benni (Nicola Perot), ihrer Freundin Sonia (Anna Manuelli) und deren Partner Sandro (Kevin Blaser) ist ein voller Erfolg. Die Allegra, die zu einem späteren Zeitpunkt mit Halskrause im Elternhaus im schweizerischen Tessin sitzt, wirkt wie verwandelt. Stumm und in sich zurückgezogen ist sie; weder die Eltern, noch ihre Freundin Giulia (Irene Casagrande) kommen an sie heran. Erst nach und nach offenbart sich dem Publikum das seelische Ausmaß der Katastrophe, die auf ihr lastet. In Marokko, wo sie gemeinsam klettern wollten, wurden die vier Schweizer Bergfreunde in einem Café von einer explodierenden Bombe getroffen. Allegra überlebte als einzige von ihnen.

Das Drama des schweizerischen Filmemachers Niccolò Castelli (Tutti giù) ist inspiriert von einem wahren Fall. Bei einer terroristischen Explosion in einem Café in Marrakesch, die sich im April 2011 ereignete, kamen 18 Menschen ums Leben, unter ihnen drei Schweizer. Castelli, der — mit Stefano Pasetto — auch das Drehbuch schrieb, fühlt sich am Beispiel der fiktionalen Hauptperson Allegra glaubhaft ein in den langwierigen Prozess einer Traumabewältigung.

Subjektiv, aus der Sicht Allegras erzählt, wechselt die Geschichte in kurzen Schnitten unvermittelt zwischen Gegenwartsebene und dem ehemals unbeschwerten Leben, das die sportliche Frau vor dem Anschlag führte. Dass die verschlossene Allegra weder Gespräche mit wohlmeinenden Mitmenschen verträgt, noch sich länger auf eine Erinnerung einlassen kann, prägt auch die filmische Erzählung, die ihrer bruchstückhaften Wahrnehmung folgt. Allegra wechselt zwischen innerer Sprunghaftigkeit und einem Gefühl emotionaler Betäubung.

Da Allegra nicht über den Anschlag und ihren Seelenschmerz redet, sind die kurzen, ihren Erinnerungen folgenden Rückblenden zentral für das Verständnis der Ereignisse. In Allegras Wahrnehmung ist die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart jedoch zerbrochen, also sucht sie wie teilnahmslos Halt in der Routine täglicher Aufgaben. Die Physiotherapeutin (Doro Müggler) glaubt im Gegensatz zu ihr selbst, dass sie durch Übungen wieder lernen kann, ihre Gliedmaßen uneingeschränkt zu bewegen. Sie glaubt sogar, dass Allegra wieder klettern kann und zeigt sich unbeeindruckt, als die junge Frau klagt, dass ihr die Kraft und das Vertrauen fehlen.

Intuitiv tut Allegra aber offenbar das Richtige: Sie folgt ihren eigenen Bedürfnissen, zieht bei den besorgten Eltern wieder aus und zurück in die Stadt. Sie tritt ihren Job als Zugbegleiterin wieder an. In der Straßenbahn erleidet sie eine Panikattacke, als ein arabisch aussehender, bärtiger Mann einsteigt, der auf dem Rücken ein Musikinstrument trägt. Dann aber verfolgt sie den Musiker wie getrieben und sucht seine Bekanntschaft. Ihr Motiv lässt der Film wie viele ihrer Überlegungen im Unklaren. Vielleicht weiß sie selbst nicht so genau, was sie von diesem Mann namens Arad (Helmi Dridi) will, aber er scheint sie an das Café in Marokko zu erinnern. Arads Spiel auf dem Lauteninstrument Oud und sein Gesang rühren Allegra einerseits zu Tränen. Andererseits aber rückt sie ihn in ihrer Vorstellung in die geistige Nähe der marokkanischen Attentäter. Der junge Mann weist ihre spitzen, aggressiven Unterstellungen empört zurück, ist aber weiterhin bereit, der ungewöhnlichen Bekanntschaft eine Chance zu geben. Für Allegra wird sie zu wichtigen Stütze auf ihrem Weg der seelischen Heilung.

Der wortkarge Film erzielt seine Wirkung durch die kunstvolle Dramaturgie. Was geschah, was Allegra vor dem Anschlag sagte, welche Schuldgefühle sie mit sich herumschleppt, wird so sparsam und mit Bedacht enthüllt, dass man dieser bis zum Schluss spannenden Fährte gebannt folgt. Über die Attentäter erfährt man nichts, es geht allein um Allegra und ihren Prozess der Selbstermächtigung. So wie sich Allegra wieder an der Kletterwand von Griff zu Griff emporhangelt, sammelt das Drama auf minimalistisch anmutende Weise die Puzzleteile, die sich zu einem Ganzen fügen sollen. Wenn ein Schritt funktioniert hat und weiterführt, ist es gar nicht so wichtig, den Grund minutiös zu erforschen. Das Publikum erahnt, was in Allegra vorgeht und kann sich auf dieser Basis einen eigenen Reim bilden. Sie selbst lässt ihre inneren Bilder ja auch lieber kommen und gehen, als sich allzu sehr an einzelne von ihnen auf der Suche nach Antworten zu klammern.

Atlas (2021)

Die kletterbegeisterte Allegra (Matilda De Angelis) wurde Opfer eines Terroranschlags, bei dem drei ihrer Freunde ums Leben kamen. Von Schuldgefühlen und Rachegedanken geplagt, zieht sie sich in die Einsamkeit zurück. Ihre Lieben sind machtlos. Um zurückzukehren und das Leben wieder zu schätzen, muss sie einen langen Kampf gegen sich selbst führen. Vor diesem Hintergrund trifft sie auf Arad, einen jungen Flüchtling aus dem Nahen Orient. Doch es fällt ihr schwer, das Vertrauen in das Fremde zurückzugewinnen. (Quelle: Arsenal Filmverleih)

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