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Fünf Männer mit Migrationshintergrund berichten von ihrem Leben, ihrer kriminellen Jugend und ihrer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte. Das ergibt zwar halbwegs interessante Charakterporträts – leider aber nicht mehr.

Another Reality (2019)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Schnelles Geld und schnelle Autos

Drei Männer stehen in einem Eckkiosks, haben sich an einem der Stehtische unter dem kalten Neonlicht versammelt. Alle sind sie groß gewachsen und breit gebaut, ihre Haut ist dunkel, ihre Gesichter zieren dichte, schwarze Bärte. Ihre Sprache ist geprägt von Szene-Slang, sie berichten von Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit. Einer von ihnen wollte früher zur Polizei. Gelächter. Dass es mit der Bewerbung nicht geklappt hat, lag an den vier Anzeigen, die er sich kurz hintereinander eingehandelt hat: Erpressung, Körperverletzung, Bedrohung von Zeugen, schwerer Raub. „Da war das schnelle Geld einfach zu verlockend“, sagt er.

Diese drei Männer aus Berlin sowie zwei weitere sind es, die in Another Reality (der seine Premiere auf dem Dok.fest München 2019 feierte und nun auch einen regulären Kinostart erhalten hat) porträtiert werden. Unter ihnen etwa der einigermaßen erfolgreiche Rapper PA Sports oder die bestenfalls in engen Szenekreisen bekannten Sprachgesangskünstler Kianush und Sinan-G. Die anderen leiten Autovermietungen, Kioske oder Shisha-Bars, in denen ein Großteil der Spielzeit von Another Reality stattfindet. Man sieht die Protagonisten außerdem im Musikstudio, im Fitnesscenter, beim Barbier, in Cafés, in den verrauchten Hinterzimmern von Wettbüros, wo Karten gespielt und auf Fußballspiele gesetzt wird – und (viel zu) selten auch mal in ihren Wohnungen. 

Alle fünf leben seit Jahrzehnten in Deutschland, einige wurden hier geboren. Sie sind in diesem Land zur Schule gegangen, haben eine schwierige Jugend hinter sich, haben hier gearbeitet und es zu Erfolg gebracht. Aber gelten sie deshalb als deutsch? Sowohl in ihrer eigenen Wahrnehmung als auch in der ihres Umfeldes? Die Probleme würden schon sichtbar, wenn er sich als „Kanacke“ irgendwo bewerbe, erzählt einer der fünf. „Wenn ich Achim heißen würde statt Achmed, würde die Welt ganz anders aussehen. Dann wäre ich vielleicht sogar Fußballprofi geworden.“ Die zwei großen Fragen, denen sich Another Reality (bereits dem Titel nach) stellen will: Gibt es in Deutschland sogenannte Parallelgesellschaften? Und wie sehen diese aus?

Die erste Frage lässt sich nach den rund 95 Minuten mit einem vorsichtigen „Ja“ beantworten. Für die zweite hingegen liefert diese Reportage nur sehr wenig von Substanz. Eines der Hauptprobleme dafür ist, dass die Filmemacher*innen ausschließlich ihren Subjekten das Wort und die Narration überlassen: Auf einen Off-Kommentar oder Fragestellungen wird verzichtet. Ein wenig (Ein-)Ordnung stiftet lediglich die Montage, die jedoch keinem erkennbaren roten Faden folgt, sich stattdessen von Momentaufnahme zu Momentaufnahme hangelt und nur gelegentlich inhaltliche Verknüpfungen zwischen Szenen und Protagonisten schafft. Unter die Oberfläche blickt Another Reality trotzdem (oder gerade deswegen) kaum.

Über mehrere Jahre hinweg sind diese Aufnahmen entstanden – was die Tatsache, dass sich die gewonnen Erkenntnisse über den hier dokumentierten Gesellschaftsausschnitt doch arg in Grenzen halten, umso schwerer wiegen lässt. Another Reality gelingt es, halbwegs intime Charakterporträts zu kreieren, zur Sozial- oder Milieustudie reicht es jedoch bei Weitem nicht. Schon deshalb, weil Frauen faktisch nicht vorkommen und die Protagonisten aufgrund ihres beachtlichen finanziellen Wohlstandes wenig repräsentativ erscheinen. Ihre Erzählungen von längst vergangenen Tagen als Kleinkriminelle, ihre Anekdoten aus dem Gefängnis und die Berichte von Freunden von Freunden, die irgendwann mal dies und das geplant hatten, werden ohne jegliche Einordnung oder kritische Nachfrage stehen gelassen. Als einer der fünf erklärt, dass er im Restaurant stets einen Blick auf die Tür haben will, um zu sehen, wer ihm im Falle eines Mordanschlags in den Kopf schießt, dann klingt das einerseits aufrichtig, hat andererseits aber auch den Beigeschmack einer herbei-imaginierten Gagsterrap-Fantasie. Ein Hauch von Kontext, etwa wie oft so derartiges in Berlin geschieht, wäre nicht nur an dieser Stelle hilfreich und – so muss man sagen – nötig gewesen. In dieser Form lässt sich Another Reality gar vorwerfen, die Debatte um mutmaßliche Parallelgesellschaften noch weiter zu verschärfen.

Die interessanten Fragen – etwa der nach gesamtgesellschaftlichem Rassismus, dem Gelingen oder Nicht-Gelingen von Integrationsprozessen, den Gründen für die Bildung sogenannter Parallelgesellschaften oder dem Verhältnis von Nationalität, Staatsangehörigkeit und Identität – finden in Another Reality nur sehr spät und dann auch nur sehr kurz Erwähnung. Die übrige Zeit wird dafür aufgewendet, dem Zuschauer zu verdeutlichen, dass hier – trotz untypischer Biografien sowie anderer Wert-, Sprach- und Verhaltenscodes – Männer vor der Kamera sitzen, die wie alle anderen Träume, Ängste, Wünsche haben. Jene Teile des Publikums, die diese Erkenntnis bislang allerdings nicht selbst ereilt hat, wird auch Another Reality nicht davon überzeugen können.

Another Reality (2019)

Lebensräume und Integration der anderen Art: Deutscher Großstadtalltag in der Parallelgesellschaft illegaler Familienclans. Männer mit gut gepflegten Bärten, Muckis und dicken Autos lassen uns in ihre Wohnzimmer. Sie haben jede Menge Cousins, das schnelle Geld liegt einen Auftrag entfernt, das Gefängnis ebenso. Ihr Viertel ist ihre Bühne, auf der sie sich nur zu bereitwillig präsentieren und so den Blick freigeben in eine Welt, die nach eigenen Regeln funktioniert.

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