Anderswo

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Zwischen den Stühlen, zwischen zwei Ländern

„Saudade“: das meint eine bestimmte Art der Sehnsucht, der Melancholie – es ist eines der unübersetzbaren Wörter, die Noa sammelt für ihre Master-Abschlussarbeit. Eine Arbeit, die von der Uni keinerlei Unterstützung erhält, an der Noa selbst zweifelt, die aber diesen Film als schöner Subtext durchzieht: „Magone“ etwa ist ein Gefühl im Bauch, als würde der Magen schwer vor Stress und Druck; „stam“: nur so, nicht wichtig, lass mich in Ruhe; „toqborni“: „begrab mich!“ – im Sinne von „ich will vor dir sterben, ich möchte deinen Tod nicht erleben“; „mahje“: Auf der Straße öffentlich jemanden beschimpfen, der es verdient hat und so sein Gesicht verliert; oder auch „otstraninje“, ein Begriff, der sich auf die zwei Antriebe des Menschen bezieht, nämlich das Glück zu suchen oder das Leiden zu vermeiden, und der bedeutet, sich selbst auszuschließen aus diesem System, eine Art stoischer Beobachter des Lebens zu sein, der die Welt bewundert ohne Leidenschaft…
Klar, dass diese Begriffe, die Noa gesammelt hat und mit denen sie nicht mehr arbeiten mag, ihre eigenen Seelenzustände widerspiegeln: Sie stammt aus Israel, ist aber nach Deutschland – ja, man kann sagen: geflüchtet, vor ihrer dominanten Mutter, vor dem schweigsamen Vater, der feindseligen Schwester, dem merkwürdig in sich gekehrten Bruder… Doch Deutschland hat sie auch nie in ihr Herz aufgenommen, ihre Seele baumelt in einem Zwischenzustand, der sie nicht ankommen, nicht bleiben lässt. Nirgends, wie sie feststellt, als sie in ihrer Arbeits-, Sinn- und Liebeskrise wieder heimkehrt nach Israel, zu ihrer Familie.

Es ist kein neues Thema, das Ester Amrami in ihrem Debüt bearbeitet; ein sehr originelles an sich auch nicht: Der Zwischenzustand des Nicht-dazu-gehörens der Generation der Anfang-Dreißiger, die Quarterlife-Crisis, der verspürte Zwang, sich endlich sein Leben wohnlich einzurichten, und der innere Widerstand gegen die Festlegungen, für die man sich noch nicht reif fühlt. Im Fall von Noa kommt eine weitere Komplikation hinzu: Sie ist Israelin, hat zwei Länder, zwei Plätze, die ihre Heimat sein könnten. Die es aber nicht sind. Auch Regisseurin Amrami stammt aus Israel, man kann annehmen, dass die Gefühle ihrer Hauptfigur ihre eigenen sind. Man merkt das an der sensiblen Inszenierung und der einfühlsamen Charakterisierung der Figuren: Hier hat die Regisseurin sich etwas vom Leib gefilmt.

Das meiste der Handlung spielt in Israel, bei Noas Familie. Und die Mutterfigur ist wirklich monströs, liebevoll und fürchterlich, passiv-aggressiv und zärtlich, mit jeder Liebesbezeugung weckt sie neue Schuldgefühle, erneuert alte Vorwürfe; und natürlich klagt sie, wie sehr sie leidet unter den ständigen Zumutungen ihrer Familie. Auch das könnte Klischee sein – würde es nicht aufgefangen durch kleine Details, die ein differenzierteres Bild zeichnen, die Hingabe, mit der sie auf dem Friedhof ein Grab pflegt, die Gastfreundschaft, die sie (widerwillig) Noas deutschem Freund angedeihen lässt, der ihr hierher gefolgt ist.

Auch das Israelbild – das zuletzt in Julia von Heinz’ Hannas Reise als eine Art Vergleichsposition gegenüber dem Deutschland der Gegenwart inszeniert worden ist – wird bei Amrami niemals schwarz-weiß gezeichnet: Wo allüberall Nationalismus herrscht, herrscht auch allüberall Alarmstimmung wegen ständiger potentieller Gefahr; wo in der Vergangenheit der Holocaust hockt, gibt es in der Gegenwart große stetige Lebensfreude. Der Gedenktag für gefallene Soldaten ist ein flaggenbewehrter Trauertag – der zugleich abends zum Volksfest der jungen Leute wird.

Im Vordergrund aber die Lebenskrise von Noa, aufgespalten in zwei Länder, mit einer Menge Möglichkeiten vor sich und einer Menge Forderungen und Erwartungen, die von hinten drängen und seitlich an ihr zerren. Die aber vielleicht auch gar nicht so stark sind, wie sie scheinen. Weil auch das in der israelischen Mentalität steckt, die ihre Familie und damit sie selbst ausmacht: Dass es doch immer irgendwie weitergeht. Und dass man das dann auch irgendwie annehmen kann.

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„Saudade“: das meint eine bestimmte Art der Sehnsucht, der Melancholie – es ist eines der unübersetzbaren Wörter, die Noa sammelt für ihre Master-Abschlussarbeit. Eine Arbeit, die von der Uni keinerlei Unterstützung erhält, an der Noa selbst zweifelt, die aber diesen Film als schöner Subtext durchzieht:
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