Agonie

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Zwei Geschichten, die sich spiegeln

Am 29. November, so informiert uns eine Einblendung zu Beginn, wurde eine junge Frau von ihrem Freund ermordet; sie wurde zerstückelt und in Mülltonnen in Wien verteilt. Das ist sichtlich an Michael Haneke geschult: David Clay Diaz erforscht eine unerhörte Begebenheit, zeigt, ohne zu erklären, blickt distanziert auf ein Geschehen, das einen tief aufwühlt. Zugleich aber geht er nicht den Weg der reinen kalten Nüchternheit, sondern lässt den Zuschauer herankommen, stößt nicht ab, sondern empfängt: Mit einer sehr kraftvollen Inszenierungsleistung hält Agonie souverän die Waage zwischen emotionaler Immersion und berichtender Außenperspektive.
Alex kommt frisch vom Bund, heizt mit seinem aufgemotzten Auto durch die Gegend, boxt, hiphoppt und hält sich besser fern von seinem Vater. Christian studiert Jura, wohnt ärmlich, jobbt als Popcornmacher im Multiplexkino. Diese beiden Geschichten – in denen eigentlich nicht viel geschieht – erzählt der Film als zwei nebeneinanderlaufende Handlungen, Parallelschienen von Lebensentwürfen in Wien. Alex hängt mit seinem Kumpel ab; Christian beginnt eine Beziehung mit der schönen Sandra. Alex ist sauer auf seine Ex; Christian hat Manschetten, weil er nicht aus reichem Elternhause kommt. Alex bringt zwei tolle Hiphop-Szenen, poetische Beschimpfungen der Exfreundin-Schlampe und höhnische Abrechnung mit dem Arbeitsamt; Christian versagt im Examen.

David Clay Diaz erforscht zwei verschiedene Ausformungen ausgemachter Aggrokulturen. Alex einerseits ist angriffslustig, definiert sich über seinen Körper, den er stählt, auch über Auseinandersetzungen mit seinem Vater; schaut Prügelvideos im Internet. Wenn nichts mehr hilft, helfen Provokationen, vielleicht auch mal Schläge. Aggressionen: Die hegt und pflegt er, nicht zuletzt, weil seine Raps nur über Aggressionen laufen. Christian andererseits ist angespannt, tief im Inneren. Er kann wenig anfangen mit seiner Mutter. Deren Liebhaber ist für ihn Spottobjekt. Zugleich fühlt er sich erniedrigt gegenüber den anderen an der Uni, minderwertig, gedemütigt. Zweifelnd an sich und der Welt, blickt er mit höchster Wachsamkeit in sie. Und ist bereit, ihr das zurückzuzahlen, was sie ihm angetan hat. Und über allem immer wieder die Nachrichten von einem Mord im häuslichen Bereich, die Fragen nach Motiven und Ursachen, die sich nie offenbaren werden.

Zwei Parallelgeschichten, die sich gegenseitig spiegeln. Und die sich nie berühren. Das muss man wissen: Agonie verweigert die „normale“ Dramaturgie, nicht nur von Kausalität, sondern auch von Erzählweise. Im Drehbuch, beim Dreh sind sich Alex und Christian noch begegnet, haben sich ihre Geschichten überschnitten. Im Schnitt wurden sie auseinandergenommen, „das Zusammenführen hat keinen Mehrwert gegeben“, sagt Diaz, „vielmehr hätten sich so falsche Erwartungshaltungen ergeben.“ Nun, so wie der Film jetzt ist, ergeben sich ebenfalls falsche Erwartungen an einen Zusammenhang, nicht zur Sinngebung oder zur Abschließung, eher zur Abrundung der Erzählung. Die wirkt nun nicht nur – wie intendiert – offen, sondern unfertig.

Das ist ein kleines Manko nur, wenn man die inszenatorische Leistung ansieht, die in dem Film steckt. Voller Energie geht Agonie den vollen Weg, mit hervorragenden Darstellern – Alexander Srtschin, der den Alex gibt, stand zuvor noch nie vor der Kamera, eine große Leistung. Und: Dies ist kein Abschlussfilm. Es ist ein Drittjahresfilm der HFF München. Es kann noch einiges kommen von David Clay Diaz.

Agonie

Am 29. November, so informiert uns eine Einblendung zu Beginn, wurde eine junge Frau von ihrem Freund ermordet; sie wurde zerstückelt und in Mülltonnen in Wien verteilt. Das ist sichtlich an Michael Haneke geschult: David Clay Diaz erforscht eine unerhörte Begebenheit, zeigt, ohne zu erklären, blickt distanziert auf ein Geschehen, das einen tief aufwühlt.
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