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Nuri Bilge Ceylan folgt in „About Dry Grasses“ dem Alltag eines Dorflehrers in der Türkei. Die Figurenzeichnung fällt dabei angenehm ambivalent aus.

Auf trockenen Gräsern (2023)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Die Summe der kleinen Empfindungen

Wie schon seine vorherigen Filme, etwa „Winterschlaf“ (2014), ist auch das aktuelle Werk des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan ein überdimensionales, aber niemals langweiliges Konversationsstück. Wieder spielt die Handlung auf dem Land, in einer visuell märchenhaften Umgebung. Dass das Leben hier allerdings alles andere als einfach ist, erfährt man schnell. Der Blick öffnet sich auf eine verschneite Ebene. Ein eingemummelter Mann steigt aus einem Bus und stapft in die Richtung eines Dorfes. Einen Weg kann man nicht erkennen, dennoch geht der Mann zielstrebig voran. 

Den „Professor“ kennen im Ort alle. Jeder fragt Samet (Deniz Celiloğlu), wie seine Ferien waren. Der Tierarzt (Yüksel Aksu) lädt ihn zum Tee ein, dann der Leiter des Polizeipostens (Onur Gürçay), der ihn mit einer ledigen Frau aus dem Nachbardorf verkuppeln möchte. Im Lehrerzimmer trifft er auf seine Kollegen, die Frühstück gemacht haben, und auf seinen Mitbewohner Kenan (Musab Ekici). Der Schulalltag hat ihn sofort wieder im Griff. Seine Arbeit macht Samet gewissenhaft, die Schüler unterstützt er nach Kräften, auch wenn er nur darauf wartet, dass er sich wieder nach Istanbul versetzen lassen kann.

In der Mitte des Films gibt es zwei Wendungen in der Handlung, die es erlauben, spezifische Problematiken anzusprechen. Doch im Wesentlichen geht es in About Dry Grasses, wie bei Ceylan üblich, um eine Bestandsaufnahme des Lebens in der Peripherie und um das Einfangen einer sozialen und politischen Stimmung. Die wichtigsten Figuren sind neben Samet noch dessen Freund Kenan, der einen etwas ausgeglicheneren Charakter hat, und Nuray, von der die beiden Männer gleichermaßen fasziniert sind.

Die Dynamik zwischen den dreien fängt der Film visuell zurückhaltend ein, die Kamera verzichtet beispielsweise auf Nahaufnahmen oder Bewegungen. Alles hängt von der Präzision der Dialoge ab, und vom feinen, differenzierten Spiel des Ensembles. Die große Stärke der Dialoge ist diese perfekte Mischung aus banalem Palaver und tiefgründigem philosophischem Diskurs.

Darin spiegeln sich die Ängste von Personen, die sich nach Freundschaft und Zuneigung sehnen. Jeder von ihnen sieht die Welt auf eigene Weise. Nuray ist beispielsweise davon überzeugt, dass jeder, der es sich leisten kann, sich für die politische Situation des Landes engagieren sollte. Kenan gefällt es im Dorf; er fühlt sich aber übergangen, als er nicht zum Leiter der Schule ernannt wurde. Und Samet gibt sich zwar als wenig beeindruckt von den Verhältnissen vor Ort und als überzeugter Junggeselle, doch Nuray beeindruckt ihn dann doch sehr. 

Das diskrete Liebeswerben zwischen Nuray, Samet und Kenan führt zu mehreren humorvollen Szenen. Samet will Nuray zunächst Kenan „überlassen“, aber als er sieht, dass sich wirklich etwas zwischen den beiden anbahnt, reagiert er trotzig. Sein Gesicht ist ein offenes Buch. Spannend an der Figur von Samet ist, dass man sich nie so richtig darüber im Klaren ist, ob man sie mag oder eher von ihr irritiert ist. Das trifft aber auch auf die restlichen Figuren im Film zu. Und das ist definitiv einer der vielen Vorzüge des Drehbuchs. Die Figuren sind menschlich gezeichnet, mit allen Eitelkeiten und Widersprüchlichkeiten. 

Das Individuum, die persönlichen Empfindungen der Figuren, stehen in About Dry Grasses im Zentrum. Die Summe davon erlaubt Ceylan trotzdem einen politischen Kommentar auf die Realität in der Türkei. Aus den Unterhaltungen lassen sich Schlüsse über Arbeitslosigkeit ziehen und darüber, dass der jungen, ländlich geprägten Generation kaum Zukunftsperspektiven bevorstehen. Auch die Situation der Kurden, die sich in einem bewaffneten und kulturellen Konflikt befinden, kommt zur Sprache. Ceylan verzichtet auf Belehrungen, auch wenn mit dem Ende des Films, als Samet seine neuesten Lebenserkenntnisse teilt, dann ein süßlicher Tonfall anklingt. Eine Szene früher zu enden, hätte dem Film vermutlich gutgetan.

Auf trockenen Gräsern (2023)

Ein Lehrer aus Istanbul, der in einer abgelegenen, provinziellen Region seinen Pflichtdienst leistet, sieht sich überraschend mit Vorwürfen der Belästigung von Schülerinnen konfrontiert. Ausgehend von dem streitbaren Vorfall beginnt eine komplexe Reise in sein verletztes Inneres, an deren Ende die Frage steht, wie fortschrittlich er wirklich ist.

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