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Vor dem Hintergrund eines sich verändernden New Yorks erzählt Kinodebütantin A. V. Rockwell von einer jungen Mutter aus prekären Verhältnissen, die ihren nicht bei ihr lebenden Sohn entführt und ihm ein besseres Leben ermöglichen will. Ein kraftvolles, raues, nie billig sentimentalisierendes Drama.

A Thousand and One (2023)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Alles für den Sohn

„Du sollst ein besseres Leben haben als ich!“, sagt die Protagonistin in A. V. Rockwells Leinwanddebüt „A Thousand and One“ einmal zu ihrem Sohn. Ein Satz, den man aus vielen Filmen kennt, die sich um Familie und deren soziale Stellung drehen. Hier ist allerdings manches anders. Die aus New York stammende afroamerikanische Regisseurin und Drehbuchautorin füllt die Aussage mit echtem Leben, nicht mit Märchenmustern aus dem Hollywood-Baukasten. Ihre erste abendfüllende Arbeit ist ein raues, vibrierend-authentisches Porträt einer jungen Frau aus schwierigen Verhältnissen, die wie eine Löwin für ihr Kind kämpft, damit es neue Wege einschlagen kann und größere Chancen erhält.

Im Jahr 1994 kehrt Inez (Teyana Taylor) nach einem Gefängnisaufenthalt in die Straßenschluchten der Metropole zurück und legt es förmlich darauf an, wieder in Schwierigkeiten zu geraten. Kurzerhand entführt sie nämlich ihren sechsjähriger Sohn Terry (Aaron Kingsley Adetola), der bei Pflegeeltern und unter Aufsicht des städtischen Sozialdienstes aufwächst, und kommt, da sie ohne feste Bleibe ist, vorübergehend bei einer Freundin (Terri Abney) in Harlem unter. Inez‘ temperamentvolles Wesen und ihr ramponierter Ruf sorgen schnell für Konflikte mit der Mutter (Delissa Reynolds) ihrer Gastgeberin. Dennoch schafft sie es, etwas Stabilität in ihr Leben zu bringen, wobei sie sich mehr Unterstützung von ihrem nicht weniger launigen Partner Lucky (William Catlett) erhofft. Für Terry arbeitet sie sich ab und ermutigt ihn im Teenageralter (als 17-Jähriger gespielt von Josiah Cross) eindringlich, sein cleveres Köpfchen sinnvoll einzusetzen.

A Thousand and One erzählt zwei Geschichten, die sich zu einer großen Erzählung verbinden. Im Zentrum steht das Ringen der Mutterfigur, nicht in alte Verhaltensweisen zurückzufallen und damit ihrem Sohn eine Basis für eine gefestigte Biografie zu geben. Inez will den Kreislauf der Vernachlässigung, dem sie selbst ausgesetzt war, durchbrechen, ihre Erfahrungen nicht auf Terry übergreifen, ihn wahre Liebe spüren lassen und geht dieses Vorhaben mit einer bemerkenswerten Tatkraft an. Rückschläge frustrieren sie. Ihre Wut ist manchmal destruktiv, dient aber ebenso als Antrieb. Ans Aufgeben denkt sie nicht. Zu wichtig ist ihr das Kind, das im Pflegesystem zerrieben zu werden droht.

Die radikale Entscheidung, den Jungen zu kidnappen, könnte den Film mit einer thrillerartigen Spannung infizieren. Immerhin läuft Inez ständig Gefahr, aufzufliegen. A. V. Rockwell interessiert sich jedoch nicht für konventionelle Genremechanismen. Vielmher fängt sie, zum Teil harte zeitliche Schnitte setzend, Alltagsmomente ein. Beobachtet die Entwicklungen, statt sie mit großer Geste zu dramatisieren. Die Musikuntermalung ist sparsam. Selbst Szenen, die geradezu prädestiniert erscheinen, um alle sentimentalen Register zu ziehen, sind wohltuend unaufdringlich.

Parallel skizziert die Regisseurin die Veränderungen in New York von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre. Das Stadtbild wandelt sich, die Gentrifizierung schreitet, das erleben auch Inez und Terry, unaufhaltsam voran. Bürgermeister Rudy Giuliani verkündet mit Blick auf die Kriminalitätsbekämpfung eine Nulltoleranzstrategie. Und sein Nachfolger Michael Bloomberg ergeht sich in großen Träumen, vollmundigen Versprechen, den Big Apple zu einem wahrhaft modernen, für alle Menschen lebenswerten Ort zu machen. Diskriminierung, Ungleichheit und Rassismus sind aber noch immer fest in der Gesellschaft verankert, wie Rockwell am Beispiel von Terrys Schwarm Simone (Alicia Pilgrim) aufzeigt.

Dass die Regisseurin ein gutes Gespür für das beschriebene Milieu hat, merkt man schnell. Atmen doch viele Einstellungen eine rohe Energie, verströmen ein atmosphärisches Knistern. Für einen Debütfilm ist das Ganze überhaupt erstaunlich souverän arrangiert. Geschickt wechselt etwa die Bildsprache in den unterschiedlichen Lebensphasen. Zu Beginn, als es bei Inez noch turbulent und unstet zugeht, nutzt Kameramann Eric K. Yue eine Unruhe vermittelnde Handkamera. Später dann, wenn Mutter und Sohn in solideren Verhältnissen angekommen sind, ist auch die visuelle Gestaltung übersichtlicher, entspannter. Zu einem nachhallenden Kinoerlebnis wird A Thousand and One durch die furios-kantige Darbietung der bislang vor allem als Musikerin in Erscheinung getretenen Teyana Taylor und eine aufwühlende, Ambivalenzen nicht platt walzende Offenbarung gegen Ende. Schock, Schmerz und leise Hoffnung liegen hier eng beieinander.

A Thousand and One (2023)

Das Drama handelt von einer obdachlosen Frau, die ihren in einer Pflegefamilie befindlichen Sohn entführt, um mit ihm ein neues Leben aufzubauen.

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