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Mit 1899 kehren die Macher der Netflix-Hitserie Dark mit einer weiteren Story zum Streamingdienst zurück. Die erinnert zwar an die Vorgänger-Serie, ist aber eigenständig genug, um trotzdem neu und frisch zu wirken.

1899 (TV-Serie, 2022)

Eine Filmkritik von Markus Fiedler

Realität ist Ansichtssache

Jantje Friese und Baran bo Odar stellten als kreatives Team von „Dark“ die Frage Wann? in den Raum und schufen mit der Entwicklung eines Plots um dieses Wort einen weltweiten Serienerfolg für Netflix. In ihrer neuen Serie „1899“, die sie ebenfalls als Produzent*Innen, Autor*Innen und Regisseur*Innen betreuen, geht es auf den ersten Blick ein wenig bodenständiger zu; denn hier ist die bestimmende Frage der Story das Wo?, nach dessen Antwort die Protagonisten suchen. Doch auch hier gelingt es dem Duo, das Publikum bei der Beantwortung dieser nur scheinbar leichten Frage schnell gründlich in die Irre zu führen. Denn schon bald ist im „1899“-Universum so gut wie nichts mehr sicher.

Der Passagierdampfer Kerberos steuert im Jahr 1899 die USA an, an Bord jede Menge Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen ein neues Leben beginnen wollen oder sich in der Neuen Welt langersehnte Freiheiten erhoffen. Als der Kapitän einen Funkspruch des vor vier Monaten spurlos verschwundenen Schwesterschiffes Prometheus erhält, beschließt er, den Kurs zu ändern und Hilfe zu leisten. Eine schicksalhafte Entscheidung. Denn die Prometheus ist ein Geisterschiff mit nur einem Überlebenden an Bord. Und kurz nach dem Erreichen des Schiffes beginnen auch auf der Kerberos mysteriöse Ereignisse, die Besatzung und Passagiere bald in Unruhe versetzen.

Tatsächlich erinnert die Ausgangslage der Reise und die baldige Unsicherheit, wo man sich tatsächlich befindet, recht deutlich an die vielleicht bekannteste Mystery-Serie der TV-Geschichte, das von J.J. Abrams und Damon Lindelof erdachte Lost. Aber anders als bei der US-Serie, in der jede neue Staffel nur deutlicher vor Augen führte, dass die Macher ganz offensichtlich zu Beginn der Idee noch keine Ahnung hatten, wie das Ganze enden sollte, ist 1899 von Beginn an auf drei Staffeln geplant, sodass das Publikum davon ausgehen kann, hier eine bis zum Ende durchdachte Story zu bekommen – sollte die Serie erfolgreich genug laufen, um eine Bestellung aller drei Staffeln für Netflix lohnenswert erscheinen zu lassen.

Zwar erschöpfen sich die Parallelen zu Lost nicht im Aspekt des Verlorengehens, allerdings wären weitere inhaltliche Vergleiche zwischen den Serien deutliche Spoiler in Bezug auf 1899 und sollen deshalb an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Wer sich 1899 ansieht und Lost kennt, wird die weiteren Ähnlichkeiten unschwer erkennen. Grundsätzlich ist beiden Serien gemeinsam, dass jede Kleinigkeit und jedes Details eine Bedeutung haben könnte, die sich erst in späteren Folgen offenbart. Sehr gezielt arbeiten bo Odar und Friese mit ambivalenten Figuren, lassen keine Helden entstehen, nehmen aber auch den vermeintlichen Schurken immer wieder etwas von ihrer dunklen Aura, um das Publikum stets ohne ein Gefühl der sicheren Erkenntnisse zu entlassen. Wer weiß mehr, als er wissen dürfte? Wer glaubt, etwas zu wissen, das gar nicht stimmt? Und wer weiß nicht einmal, wer er wirklich ist?

Diese Fragen überführen bo Odar und Friese schließlich in einen Zustand, in dem von den Protagonisten – und dem Publikum – eigentlich alles angezweifelt werden muss, was zu sehen ist. Anders als bei Dark, wo relativ schnell zumindest der grobe Kurs der Serie klar wurde, gefällt sich 1899 auch nach sechs von acht Folgen (so viele wurden von Netflix vorab gezeigt) in Rätseln. Jede neue Erkenntnis führt nur zu weiteren Fragen und die Situation an Bord der Kerberos wird keinesfalls erhellt.

Auch wenn die meisten Zuschauer:Innen wohl zu diesem Zeitpunkt zumindest einen Verdacht haben, welche Grundstory ihnen da aufgetischt wird.
Ähnlich bleibt die Arbeitsweise von bo Odar und Friese, die erneut auf bewährte Muster des Erzählens zurückgreifen. So ist auch in 1899 längst nicht jede der vielen Hauptfiguren die, die zu sein sie vorgibt. Mit vielen Andeutungen und kleinen Twists halten die Macher das Publikum auch gezielt davon ab, sich mit den Personen an Bord zu sehr gemein zu machen. Stattdessen drängen sie Zuschauer in die Rolle von Beobachtenden, die das Geschehen eher auf einer intellektuellen als auf einer emotional ansprechenden Ebene verfolgen. Der Vorwurf, den die kreativen Köpfe bereits mit Dark zu hören bekamen, die Serie sei schlicht zu kalt und emotionslos, dürfte auch bei 1899 wieder zum Vorschein kommen.

Zudem erinnert der düstere, aber edle Look von 1899 an Dark. Mit opulenter Ausstattung, Filtern, die selbst helles Sonnenlicht melancholisch wirken lassen und einer dynamischen Kamera erzeugt die Serie außergewöhnlich starke Bilder, die Eindruck hinterlassen. Auch das Ensemble vor der Kamera kann sich sehen – und hören – lassen. Hatte Dark da seine Schwachpunkte, so kann 1899 in allen Rollen komplett überzeugen. Um das babylonische Sprachgewirr an Bord glaubhaft erscheinen zu lassen, wurden Schauspieler engagiert, die jeweils Muttersprachler sind. Neben Englisch und Deutsch wird Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Dänisch und sogar Mandarin gesprochen, was in der auf Englisch gedrehten Original-Fassung dazu führt, dass nur das Englische nicht untertitelt wird, alle Sprachen zu hören sind.

Die deutsche Fassung ist leider komplett synchronisiert, sodass alle Protagonisten Deutsch sprechen und der nicht unwichtige Aspekt der schwierigen Verständigung untereinander wegfällt. Wer halbwegs gut Englisch versteht und sich richtig in die Serie fallen lassen möchte, dem sei deshalb unbedingt die englische Version empfohlen.

Unbedingt erwähnenswert ist auch der Sound der Serie. Neben einer brachialen Tonspur, bei der schon kleine Geräusche Angst machen, haben die Macher auch musikalisch einen Glücksgriff getan, in dem sie einige Klassiker der Rockmusik in die Serie integrierten. So ist der Titelsong von 1899 White Rabbit der Band Jefferson Airplane, der sich inhaltlich mit Alice im Wunderland auseinandersetzt und als einer der bekanntesten Psychedelic-Rock-Songs gilt. Selbstverständlich finden die Bilder des Songtextes auch ihre Entsprechung in der Serie. Weitere Hymnen wie All Along the Watchtower von Jimi Hendrix oder Child in Time von Deep Purple runden die Finals weiterer Folgen passend ab.

Eigentlich hat 1899 nur eine Schwäche: Sie richtet sich nur an eine bestimmte Klientel. Man muss schon Spaß daran haben, auf Details zu achten, Blicke zu deuten oder seltsamen Aktionen mancher Charaktere in den richtigen Kontext zu setzen, um mit der Serie zufrieden zu sein. Und selbstverständlich sollte man bereit sein, Maßstäbe wie Glaubwürdigkeit oder Wahrscheinlichkeit über Bord werfen – schließlich geht es genau darum, eine Story zu erzählen, die sich um diese Dinge nicht schert. Wer sich da angesprochen fühlt, bekommt mit 1899 eine Serie, die qualitativ absolut überzeugt. Und der zu wünschen ist, dass genug Leute zusehen, um alle drei Staffeln möglich zu machen. Schließlich will das Publikum ja wissen, was sich am Ende des Kaninchenbaus finden lässt.

1899 (TV-Serie, 2022)

Europäische Auswanderer begeben sich im Jahr 1899 an Bord eines Dampfschiffes auf die Reise gen Westen. Vereint werden die Passagiere mit unterschiedlichsten Hintergründen und Nationalitäten durch ihre Träume und Hoffnungen auf ein neues Jahrhundert und ihre Zukunft in der Fremde. Als sie ein zweites Schiff auf dem Meer treibend entdecken, nimmt ihre Reise eine unerwartete Wendung. Was sie an Bord vorfinden, wird ihre Fahrt ins gelobte Land in einen schrecklichen Albtraum verwandeln.

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Meinungen

Susisa · 30.11.2022

Ich bin super ärgerlich darüber, dass man den Weiterdreh der Serien davon abhängig macht wie viele die die Serie gucken. Weil man dann anfangen muss sie zu gucken und wenn sie dann doch nicht weiter gedreht wird, steht man da. Das ist wie ein Koitus interrupts. Und weil ich da keinen Bock drauf habe, gucke ich keine unvollständigen Serien mehr. Das führt dann wieder dazu (wenn das mehr Leute machen) , dass die Serien nicht weiter gedreht werden.
Und daran sieht man, dass es den Machern (den Geldgebern) nicht um Qualität geht- nicht mal in Ausnahmefällen.
Dumpfbacken Kino gucken immer viele, und alle anderen werden immer mehr ausgedrängt. Vielleicht ist es doch besser ich melde alles ab und gucke überhaupt keine Filme mehr.

Konni · 28.11.2022

An welchen Film erinnert mich diese Serie? Schwarze Pyramide die aus Chlustern besteht, eine "echt wirkende" virtuelle Welt, die Protagonisten merken langsam, dass die Welt um sie herum virtuell ist und das echte Erwachen am Ende in einem Raumschiff.weit weg von der Erde...

Ich komm noch nicht drauf.

Sumpfiosi · 25.11.2022

Unglaublich vorhersehbar, mehr oder weniger eintönig und ein weiteres Beispiel fur die immer beliebiger werdende Masse an Netflix Serien.

J · 18.11.2022

Die Synchro auf deutsch schrecklich!! Amateurmässig nicht zu ertragen man kann es auf deutsch einfach nicht anschauen nur zum kotzen

M · 18.11.2022

Die Serie in sich spannend aber die Synchronisation auf deutsch einfach schieße teilweise auf deutsch nicht zu ertragen🤮