1. Mai

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

4 Regisseure, 3 Episoden, 1 Film

Der 1. Mai in Berlin-Kreuzberg, das ist seit vielen Jahren ein Datum, an dem es immer wieder zu schweren Ausschreitungen und Straßenschlachten zwischen Autonomen und der Polizei kommt. Wenn sich nun ein Spielfilm diesem Datum widmet, der zudem aus dem Geist des „solidarischen Filmemachens“ entstammt, wie der Produzent Jon Handschin bekennt, dann kommt man schnell auf eine falsche Spur. Denn mit dieser Form des Sozialismus verbindet sich weniger eine politische Haltung als vielmehr ein künstlerisches Prinzip des Herangehens. Es geht darum zu zeigen, dass gerade in einem Umfeld, das vor allem vom harten Wettbewerb geprägt ist, auch ein gemeinsames Agieren möglich ist.
Gemeinsam mit den befreundeten Produzenten Alexander Bickenbach von Frisbeefilms und Christian Rohde von teamWorx lud Jon Handschin von jetfilm Regisseure und Autoren ein, sich an dem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, für das fünf Regeln aufgestellt wurden: 1. Alle Geschichten spielen in denselben 24 Stunden, vom Morgen des 1. Mai bis zum Morgen des 2. Mai. 2. Jede Geschichte ist 20-30 Minuten lang. 3. Jede Geschichte muss 5-8 Minuten tagsüber in Außensets in Kreuzberg am 1. Mai spielen. Jedes Team muss diese essentiellen Bilder während des tatsächlichen Demonstrationstags am 1. Mai 2006 in Kreuzberg – mitten im Geschehen, ohne Abschottung und ohne Drehgenehmigung – inszenieren. Dazu ist nur ein kleines Team erlaubt, bestehend aus Regisseur, Kameramann, Schauspielern, Tonmann und Aufnahmeleiter. 4. Jede Geschichte weist mindestens fünf mögliche Cliffhanger-Szenen auf. Die Geschichten folgen dem realen Zeitablauf des Tages, d.h. sie werden nicht nacheinander, sondern parallel montiert. 5. Alle Geschichten enden morgens, am 2. Mai in der Notaufnahme des Urban Krankenhauses in Kreuzberg. Außerdem gab es neben diesen formalen Vorgaben noch eine inhaltliche Festlegung: Jede Geschichte musste von einem Protagonisten handeln, der unter großem persönlichem Druck steht und der sich durch den 1. Mai eine Lösung seiner Probleme erhofft.

Schnell kristallisierten sich während des Auswahlprozesses drei verschiedene Teams heraus: Sven Taddicken (Emmas Glück) kooperierte mit dem Autor Michael Pröhl (Katze im Sack), Jakob Ziemnicki (Tompson Musik) arbeitete mit Oliver Ziegenbalg (Kein Bund fürs Leben) zusammen und Carsten Luddwig entwickelte seine Story gemeinsam mit seinem Regie-Kollegen Jan-Christopher Glaser.

Es ist noch früher Morgen, als die beiden Jugendlichen Jacob (Jacob Matschenz) und Pelle (Ludwig Trepte) aus dem westfälischen Minden den Zug besteigen, um den Tag – es ist der 1. Mai – in Berlin zuzubringen. Begleitet von einer Videokamera, die Jacob als eine Art elektronisches Tagebuch bei sich führt und die erst am Ende des Tages ein grausiges Geheimnis enthüllen wird, wollen die beiden in der fernen Großstadt etwas erleben, die zu erwartenden Randalle und Drogen sollen Abwechslung ins langweilige Leben bringen. Action erwartet sich auch der elfjährige Yavuz (Cemal Subasi) von dem Maifeiertag, er will endlich zu den Großen gehören und träumt davon, einen „Bullen platt zu machen“. Er trifft im Laufe seiner Odyssee auf den Altlinken Harry (Peter Kurth), der die Devotionalien vergangener Schlachten wie Reliquien in seiner Wohnung aufbewahrt und von den guten alten Zeiten träumt. Und schließlich ist da noch der Polizist Uwe (Benjamin Höppner), der aus dem Umland nach Berlin verfrachtet wird, um dort bei den Mai-Demonstrationen für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Doch Uwe hat eigentlich ganz andere Sorgen, denn seit Monaten schon betrügt ihn seine Frau. Klar, dass bei ihm die Nerven blank liegen und so manches schief geht. Und erst am Ende eines turbulenten Tages vereinigen sich die drei Handlungsstränge und treffen in der Notaufnahme eines Krankenhauses aufeinander – da ist es für einen der Protagonisten allerdings bereits zu spät…

Eines ist der Film 1. Mai gewiss nicht: die verklärte Überhöhung eines Ereignisses, das Jahr für Jahr mit stupider Gleichmäßigkeit über die Bühne geht und das längst zu einem versteinerten Ritual geronnen ist. Genau diese kritische Sichtweise auf den 1. Mai in Kreuzberg findet sich zuhauf in dem Film: Und der Altlinke Harry , die beiden Krawalltouristen Jacob und Pelle aus der westfälischen Provinz, der Polizist Uwe oder der türkische Mini-Macho Yavuz, der die Randale als Initiationsritus für seinen Eintritt in die Welt der Erwachsenen begreift, sie alle sind Gefangene ihrer Vorstellungswelt, die ihr Handeln bestimmt. Dass sich hinter diesen einfachen Denkmustern mitunter menschliche Tragödien verbergen, das merken wir zumindest im Falle von Jakob spät, dann aber umso härter.

Sicherlich bedient sich der Film, wie mancher Kritiker anmerkte, einiger Klischees (welcher Film tut das nicht?), insgesamt aber stellt er in mehrfacher Hinsicht ein gelungenes Experiment dar, das jungen Filmemachern eigentlich Mut machen sollte. Denn zum einen zeigt er, dass neue Konzepte und Erzählweisen durchaus eine Chance haben, realisiert zu werden – auch mit Hilfe des Fernsehens, das sich hier in Gestalt des Senders ARTE auf das Risiko einließ. Und zum zweiten dekonstruiert 1. Mai gnadenlos und ohne erhobenen Zeigefinger die Spießigkeit mancher Revolutionäre, deren Motive in manchen Fällen mehr als fragwürdig oder schlichtweg dumm sind.

Ein gewagter Episodenfilm, der sich als erstaunlich rund und wie aus einem Guss präsentiert.

1. Mai

Der 1. Mai in Berlin-Kreuzberg, das ist seit vielen Jahren ein Datum, an dem es immer wieder zu schweren Ausschreitungen und Straßenschlachten zwischen Autonomen und der Polizei kommt.
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