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Kolumnen

Jesajah wird unsichtbar

Ein Beitrag von Rochus Wolff

Meinungen
Liliane Susewind

Selbst wenn Sie Kinder haben, kennen Sie womöglich Liliane Susewind nicht. Die junge Dame hat ganz besondere Fähigkeiten: Sie kann mit Tieren sprechen und Pflanzen zum Wachsen animieren. Liliane hängt deshalb gerne mit ihrem besten Freund Jesajah im Zoo ab und dolmetscht Tiersprache. Was man halt so macht als Heldin einer Kinderbuchserie, von der es mittlerweile über 15 Bände gibt.

Tanya Stewners Bücher sind immerhin so erfolgreich, dass es nun eine Verfilmung geben soll. Das verwundert nicht, das deutsche Kinderkino besteht ja zu einem guten Teil aus Buchverfilmungen. Aber die dahinter lauernde Einfallslosigkeit ist ein anderes Problem, darum soll es hier nicht gehen. Seit Juli laufen die Dreharbeiten, als erwachsene Darsteller wurden einige erfreuliche, aber übliche Verdächtige wie Meret Becker und Christoph Maria Herbst gewonnen, auch Aylin Tezel ist dabei. Regie führt Joachim Masannek, der als Kinderbuch-Autor und Regisseur vor allem durch Die wilden Kerle bekannt geworden ist.

Das liegt alles im Bereich des braven deutschen Kinderkinos – vor allem langweilig, jedenfalls politisch ohne Ambitionen. Seit Mitte August allerdings stecken der Kinofilm Liliane Susewind und seine Produktionsfirma Dreamtool Entertainment in einer kleinen politischen Diskussion, die ein grundsätzliches Problem im deutschen Filmgeschäft wieder einmal beleuchtet.

Die Figur des Jesajah wird nämlich in den Büchern durch zahlreiche Hinweise – ohne dass das besonders explizit thematisiert würde – als Schwarz identifiziert: Zunächst heißt es nur, er habe dunkle Locken, in einem späteren Band wird auch auf seine dunkle Haut verwiesen. Sein Vater stammt aus Namibia, wohin er im zwölften Band (Giraffen übersieht man nicht) auch zusammen mit Liliane reist, um seine Großeltern zu besuchen (und natürlich Abenteuer zu erleben).

Im Film heißt die Figur nun „Jess“ und wird, so teilte es Stewner auf ihrer Facebook-Seite mit, von Aaron Kissiov gespielt, einem sicher talentierten Jungschauspieler, der ebenso sicher weiß ist.

In der sich daran anschließenden Diskussion meldeten sich vor allem die Eltern von Schwarzen oder Kindern of Color zu Wort, die ihre große Enttäuschung zum Ausdruck brachten, dass hier eine der seltenen positiven Identifikationsfiguren für Schwarze Kinder in der deutschen Kinderliteratur in der Verfilmung zu einem Weißen gemacht worden sei – noch dazu eine Figur, die in der Buchreihe vor allem durch ihre überragende Intelligenz charakterisiert werde.

Auf ein Wort gebracht geht es also um das Phänomen des Whitewashing, das vor allem bei Hollywoodfilmen in den vergangenen Jahren immer wieder und immer mehr in die Kritik geraten ist. Figuren, die aus der Filmvorlage, dem Drehbuch oder dem historischen Kontext eines Films heraus Nicht-Weiße sein müssten, werden stattdessen mit (meist bekannten) weißen Schauspielern besetzt. Zum Beispiel Emma Stone als asiatisch-hawaiianische Figur in Aloha, Tilda Swinton als asiatische Gelehrte in Doctor Strange oder praktisch alle Hauptfiguren in The Last Airbender. Zuletzt ist gerade unter leichtem PR-Getöse der Schauspieler Ed Skrein von einer Rolle im Hellboy-Remake zurückgetreten, die in der Comic-Vorlage als aus Japan stammend eingeführt war.

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(A Brief History of Hollywood Whitewashing)

Man mag – als nicht betroffener Weißer in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft – diese Diskussionen als kleinlich empfinden, aber der entscheidende Begriff ist hier der der Repräsentation. Hinter diesen Besetzungsentscheidungen lauert eine perfide, aus Gedankenlosigkeit genährte Form des Rassismus, die dazu führt, dass in Hauptrollen, in den Rollen von Experten, Lehrern und Weltenrettern, immer wieder Weiße auftreten – selbst dann, wenn die Geschichten in einem Kontext auftreten, in dem sie als fremd herausstechen müssen. Dies erklärt z.B. die Irritationen, die die Besetzung von Scarlett Johannson als die Hauptfigur des Ghost in the Shell-Remakes hervorriefen.

Auf Jesajah bezogen hat diese Haltung zugespitzt eine Mutter wiedergegeben, die ihr Kind mit der Aussage zitiert: „Dass Jesajah als weiß gesehen wird, liegt daran, dass die sich nicht vorstellen können, dass so ein Schlaukopf Schwarz ist.“

Wie wichtig Repräsentation ist – die Sichtbarkeit von Menschen aller Hautfarben, Geschlechter usf. – ließ sich durchaus auch in der Reaktion vieler Zuschauerinnen auf die Wonder Woman-Verfilmung beobachten: Endlich einmal gibt es auch eine Superheldin, die diesen Namen verdient hat, die nicht nur als sexualisierter Schauwert herumgereicht wird und auch von selbst einen Film tragen darf!

Konkret hat das Esther Große in einem Facebook-Post formuliert: „Jetzt gibt es endlich mal die perfekte Vorlage für eine tolle Schwarze Rolle und was passiert? Sie wird verschwendet. Es wird hunderten, ja wahrscheinlich tausenden von Schwarzen Kindern diese eine, seltene Gelegenheit zu ein wenig Empowerment genommen. Es wird auch tausenden von weißen Kindern die Chance genommen, einen Schwarzen Jungen in einer solchen Rolle zu sehen und dadurch Bilder in ihren Köpfen zu schaffen, die der gängigen Darstellung von Schwarzen Kindern etwas entgegensetzen. Dies ist keine banale und unwichtige Sache. Es ist wichtig und groß.“

Speziell das Kinderkino in Deutschland könnte Diversifizierung vertragen. Es sind hierzulande abseits der Festivals praktisch keine Kinderfilme zu sehen, in denen die Protagonisten nicht Weiße sind. In Hollywood ist bei Whitewashing öfter die Rechtfertigung zu hören, man habe halt einen Star (sprich: einen weißen, meist männlichen Schauspieler) gebraucht, um den Film finanziert zu bekommen. Diese Argumentation verfängt bei Kinderdarstellern eher selten.

Die traurige Wahrheit ist aber, dass es im deutschen Film überhaupt keine wirkliche Tradition gibt, Schwarze oder überhaupt Nicht-Weiße in nicht-stereotypisierte Rollen zu besetzen. Für sie bleiben meist Rollen als Migrant_innen mit schlechten Deutschkenntnissen oder exotisch überzeichnete Randfiguren. Nur selten sind sie in wirklich charakterlich komplexen Rollen zu sehen, fast immer sind Hautfarbe, nicht-deutsche Herkunft oder generell Migrationsfragen zentrale Themen, die an ihnen verhandelt werden.

Was es stattdessen braucht: Menschen aller Hautfarben in allen möglichen Rollen, in denen ihr Aussehen, ihre Herkunft keine Rolle spielt; in denen den Figuren keine rassistischen Stereotype auf den Leib geschrieben werden. Selbst Schauspielerinnen vom Format einer Sibel Kekilli können davon ein leidvolles Lied singen, und dieses Lied ist einer der wichtigsten Gründe, warum man sich um die aktuell entstehende Realverfilmung von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ernsthafte Sorgen machen kann und muss.

In der Causa Jesajah haben sich die Autorin Tanya Stewner und auch Dreamtool Entertainment in Facebook-Kommentaren geäußert. Der Tenor ihrer Argumentation –gewissermaßen die Low-Budget-Variante des „Wir brauchten einen Star“ – ist: „Wir haben den besten Kandidaten genommen“. Man kennt Vergleichbares aus den Diskussionen um Quotenregelungen in der Arbeitswelt. Im Wortlaut:

„Beim Casting mit vielen verschiedenen Kindern hat uns Aaron Kissiov als bester Kandidat überzeugt. Es folgten dann Diskussionen, ob wir die Figur des Jesahja für die Verfilmung auf Grund von Aarons überzeugender Darstellung tatsächlich verändern sollten. Letztlich haben wir uns im Team dafür entschieden, dass der beste Bewerber die Rolle bekommen sollte.“

Das Problem an dieser Argumentation ist, dass aus dem Casting-Aufruf nicht erkennbar wird, dass sich Dreamtool wirklich darum bemüht hat, Schwarze Darsteller für die Rolle zu finden. Oder wie Produzent Felix Zackor es unspezifisch formuliert: „Beim Casting wurde nach den besten Kindern im richtigen Alter gesucht.“

Aaron Kissiov hat allerdings bereits in Die wilden Kerle — Die Legende lebt mit Regisseur Masannek zusammengearbeitet. Das mag, man weiß es nicht, die Entscheidung für ihn auch beeinflusst haben.

In einer schriftlichen Stellungnahme hat sich Zackor noch näher zu der Casting-Entscheidung geäußert: „Der Film hat eine eigene Art von Storytelling und bildet dabei die Buchverlage nicht 1:1 ab. Bei der Drehbuchentwicklung stand das Abenteuer um Liliane und die Tiere sowie die Freundschaft der Kinder im Mittelpunkt. Die Hautfarbe ihres besten Freundes, der im Film übrigens einen anderen Namen hat, spielte hierbei keine vordergründige Rolle. In den Kinderbüchern ist das genauso. Erst in späteren Bänden der Reihe erfährt der Leser, dass Jesajah afrikanische Wurzeln hat.“

Aus diesem Statement wird deutlich, dass Zackor und Dreamtool Entertainment nicht verstanden haben, was hier das Problem ist. Genau deshalb, weil „die Hautfarbe (…) keine vordergründige Rolle“ spielt, weil sie für die Freundschaft unerheblich ist, weil sie nicht weiter thematisiert wird: Genau deshalb ist das Whitewashing dieser Figur für all jene ein Problem, die sich bisher mit ihr identifiziert haben.

Auf Facebook versuchte Dreamtool Entertainment die Diskussion auch noch in eine andere Richtung weiterzudrehen: „Aaron ist auf seine Art ein sehr spezieller Junge. Und warum sollten wir ihn aufgrund seines Aussehens ausschließen?“ Hier wird die Diskussion zum einen als Angriff auf die Entscheidung für Kissiov umgedeutet. Zum anderen wird – nachdem Tatsachen ja bereits geschaffen waren – suggeriert, eine andere Entscheidung sei jetzt ihrerseits rassistisch, da sie Kissiov wegen seiner Hautfarbe benachteiligen würde.

Hier wird versucht, die Diskussion in einen anderen Rahmen zu setzen („Framing“ sagen Kommunikationswissenschaftler deshalb auch dazu), als ziele die Diskussion darauf ab, den Schauspieler – ein Kind! – anzugreifen.

Dabei geht es darum natürlich gar nicht. Es geht nicht einmal um diesen konkreten Fall, da ist das Kind in den Brunnen gefallen, die Rolle vergeben, der Schaden angerichtet. Es geht darum, dass solche Castingentscheidungen dafür sorgen, dass ganze Menschengruppen gerade in Kinderfilmen kaum oder gar nicht repräsentiert sind. Ich hatte in dieser Kolumne schon einmal den Mangel an nicht-heteronormativen Lebensentwürfen im Kinderfilm beklagt; gleichermaßen ließe sich auch konstatieren, dass die meisten Filme in einem Land spielen, dass fast nur wohlhabende weiße Bürgerlichkeit kennt.

Auch da ginge es also um Repräsentation: Darum, dass Lebensweisen, Menschen, Arbeitsverhältnisse aus der realen Welt auch im Kinderfilm vorkommen. Der käme nämlich sehr gut damit klar, nicht ausschließlich brav genormte Einheitsleben zu präsentieren. Kindern begegnet schließlich im Alltag auch der Realität von 2017 – und kommen mit der ja auch gut klar.

(Rochus Wolff)

Rochus Wolff sucht in seinem Kinderfilmblog nach dem schönen, guten, wahren Kinderkino; das findet er gelegentlich in der Vergangenheit, aber auch die Gegenwart hält zahllose wunderbare Überraschungen bereit.

Meinungen

Anna · 06.08.2018

Ich kann dem Artikel nur zustimmen! Ich war auch enttäuscht – aber ehrlich gesagt ist keine einzige Rolle, abgesehen vielleicht von Lilli, passend besetzt. Der ganze Film wurde leider grotesk-übertrieben, was mega traurig ist. Die Bücher waren authentisch mit Tiefgang, der Film ist eine totale Überzeichnung, hohl und an vielen Stellen eklig. Wie die Autorin solch eine Verfilmung zulassen konnte, ist mir absolut unverständlich.

Jürgen Matthäi · 19.04.2018

Dass die kindlichen Leser Jesahja (so wird der Name richtig geschrieben, aber die Bücher kennt Herr Wolff anscheinend selbst nicht, sondern nur aus der Kritik von Amazon-Kundin Nelly Kunze, die den Namen genauso falsch schreibt und aus der Herr Wolff zitiert), liegt wohl daran, dass Jeashja in den offiziellen Buchillustrationen und Magazinen und Webseiten genau so aussieht:
https://www.liliane-susewind.de/lillis-abenteuer/ueber-lilli/

Rochus Wolff · 20.04.2018

Hallo Herr Matthäi,
dass der Name von Jesahja falsch geschrieben ist - da haben Sie recht, das ist ein dummes Versehen und sehr ärgerlich, hat aber eher damit zu tun, dass sich mir da die gebräuchlichste Schreibweise des Namens eingeschlichen hat und ich den Fehler anschließend überlesen habe. Das sollte nicht passieren, kommt aber vor.
Ich entnehme Ihrem Kommentar, dass Sie vermuten, die Kinder nähmen Jesahja eher als weiß wahr, weil er in den Illustrationen so erscheine. Ich möchte das bezweifeln, zumal die Reaktionen und Kommentare der Autorin und der am Film Beteiligten deutlich anzeigen, dass sie selbst Jesahja ebenfalls als Schwarz verstanden hatten - und sich dann, ob aus guten oder schlechten Gründen, dafür entschieden haben, die Rolle von einem weißen Schauspieler spielen zu lassen.