Jacques Rivette

Jacques Rivette

Jacques Rivette hat nie bequeme Filme gemacht. Seine Filme Céline et Julie vont en bateau (Céline und Julie fahren Boot, 1974) und La belle noiseuse (Die schöne Querulantin, 1991) kennzeichnen ihn als Solitär des europäischen Kinos. Selbst unter den auteurs der Nouvelle Vague sticht er heraus: Allein die Länge vieler seiner Filme sprengt den herkömmlichen Rahmen.

Rivette wird 1928 in Rouen als Sohn eines Apothekers geboren. Mit 21 Jahren kommt er nach Paris. Gemeinsam mit Eric Rohmer, François Truffaut, Claude Chabrol und Jean­Luc Godard schreibt er in der berühmten Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, deren Chefredakteur er zwischen 1963 und 1965 ist.

Seine ersten Filmbesprechungen sind The Southerner von Jean Renoir und Alfred Hitchcocks Under Capricorn. Renoir und Hitchcock werden neben Roberto Rossellini dann auch seine Vorbilder als Regisseur: „Sollte ich wirklich von Hitchock, Rossellini oder Renoir beeinflusst worden sein, wäre ich begeistert. Ich könnte mir nichts Besseres wünschen.“ Besonders Renoirs Werk verfolgt Rivette intensiv. Er wird dessen Assistent bei The French Cancan (1955), interviewt ihn zusammen mit seinem Freund Truffaut 1957 für die Cahiers du Cinéma und macht 1966 einen dreiteiligen Fernsehfilm über ihn: Cinéma de notre temps. Jean Renoir, le patron.

Aus den Kritikern der Cahiers du Cinéma entwickelt sich jene Gruppe von Filmemachern, die später als Nouvelle Vague bezeichnet wird und deren wohl eigenwilligster Vetreter Rivette ist. Sie wenden sich gegen das akademisch literarisierende Cinéma de qualité und wollen Filme machen, die von der Wirklichkeit erzählen. Sie drehen auf den Straßen und in den Cafés, am Montparnasse und in ihren Wohnungen.

Doch im Gegensatz zu seinen Freunden Godard und Truffaut, die durch die Leichtigkeit ihrer Filme A bout de souffle und Les 400 coups rasch Erfolg haben, tut Rivette sich mit seinen Filmprojekten schwer. Der Produktionsprozess seines ersten abendfüllenden Spielfilm Paris nous appartient (Paris gehört uns, 1960) – nach ein paar Kurzfilmen in Angriff genommen – dauert über dreieinhalb Jahre und wird begleitet von finanziellen Nöten. Die darauf folgende Literaturadaption La religieuse (Die Nonne, 1966) wird mit der Begründung antireligiöser Tendenzen zensiert – ein Tiefschlag für den an seinen Filmprojekten immer zweifelnden Rivette.

Doch der Filmemacher bleibt sich treu. In L’amour fou (Amour fou, 1969) und dem dreizehn Stunden umfassenden Out 1 – Noli me tangere (1971) entwickelt er konsequent seine Arbeits ­ und Erzählweise weiter, zeigt seinen Mut zum Spielerischen und räumt Improvisationen einen zentralen Platz ein. Ein Drehbuch ist für Rivette nicht mehr als ein Werkzeug, erst in der Zusammenarbeit mit den Schauspielern und Technikern entsteht der Film. Bewusst dreht er gegen die Chronologie und zieht es vor, mit zentralen Szenen des Films zu beginnen. In einem Interview vergleicht Rivette seine Arbeitsweise mit der eines Malers, der mit kräftigen Farben in der Mitte des Bildes beginnt und dadurch gezwungen ist, alle späteren Farben darauf abzustimmen. Seine Filmsprache zeichnet sich durch Mut zur Spontaneität und damit auch immer Mut zum Scheitern aus.

Ohne Découpage, ohne festgelegte Folge der Einstellungen gedreht, wird Céline et Julie vont en bateau (Céline und Julie fahren Boot, 1974) ein maßgebender Film der 1970er Jahre. Der märchenhafte Abenteuerfilm Duelle (Unsterbliches Duell, 1976) und der Kostümfilm Noro ît (Nordwestwind, 1976) stellen Rivettes Freude am Spiel mit den Kinogenres unter Beweis. Wie in vielen seiner vorigen Filme wird in La bande des quatre (Die Viererbande, 1988) das Theater der Ort des Geschehens. Der Regisseur sieht eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Kunstformen: „Wenn man ein Thema nimmt, das direkt oder indirekt vom Theater handelt, befindet man sich in der Wahrheit des Kinos. (…) Film ist zwangsläufig eine Hinterfragung der Wahrheit mit Mitteln, die zwangsläufig unwahr sind.“

Der vorläufige Höhepunkt seines Schaffens gelingt Rivette 1991 mit La belle noiseuse (Die schöne Querulantin ), der den Großen Preis der Jury in Cannes erhält. Mit Michel Piccoli und Emmanuelle Béart, die durch dieses Meisterwerk international bekannt wird, inszeniert Rivette das ebenso sinnliche wie problematische Spannungsverhältnis von Maler und Modell. Die literarische Vorlage stammt von Balzac.

Nach Secret défense (Geheimsache, 1998), ein Kriminalfilm im Stile Hitchcocks, und der spielerischen Beziehungskomödie Va savoir (2001) schafft Rivette mit Die Geschichte von Marie und Julien ein intensives,übersinnliches Liebesdrama. Der Film zeigt, dass die Leidenschaft des mittelweile 76 ­jährigen für Emmanuelle Béart ungebrochen ist. Von den Cahiers du Cinéma (Nr. 584, November 2003) wird ihre erneute Zusammenarbeit unter dem mehrdeutigen Titel „La Revenante“ gefeiert.

Filmographie — Jacques Rivette

2007
Ne touchez pas la hache (Die Herzogin von Langeais)

2003
Histoire de Marie et Julien (Die Geschichte von Marie und Julien)

2001
Va savoir

1998
Secret défense (Geheimsache)

1995
Lumiére et compagnie
Haut bas fragile (Vorsicht: Zerbrechlich)

1994
Jeanne la Pucelle II – Les prisons (Johanna, die Jungfrau – Der Verrat)
Jeanne la Pucelle I – Les batailles (Johanna, die Jungfrau – Der Kampf)

1991
La belle noiseuse (Die schöne Querulantin)

1988
La bande de quatre (Die Viererbande)

1985
Hurlevent (Sturmhöhe)

1984
L’amour par terre (Theater der Liebe)

1983
Merry ­Go ­Round (Karussell)

1982
Le Pont du Nord (An der Nordbrücke)

1981
Paris s’en va

1976
Noro ît (Nordwestwind)
Duelle ­une qarantaine ­(Unsterbliches Duell)

1974
Essai sur l’agression
Naissance et mont de Prométhée
Céline et Julie vont en bateau (Céline und Julie fahren Boot)

1972
Out 1: Spectre

1971
Out 1: Noli me tangere

1969
L’amour fou (Amour fou)

1966
La religieuse (Die Nonne)

1960
Paris nous appartient (Paris gehört uns)

1956
Le coup du berger (Kurzfilm)

1952
Le divertissement (Kurzfilm)

1950
Le quadrille (Kurzfilm)