Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach

Die Absurdität der Existenz

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Drei Begegnungen mit dem Tod stehen am Anfang von Roy Anderssons Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach: In einer Wohnung bereitet eine Frau das Essen zu, ein Mann versucht, eine Flasche Wein zu öffnen und fällt tot um. Auf einem Schiff ist ein Mann nach dem Kauf eines Krabbensandwiches und Biers gestorben. Und eine alte Frau hält eisern ihre Tasche fest, die sie lieber mit ins Jenseits nimmt als sie ihren Kindern zu überlassen. Sie sterben mitten im Leben, das augenscheinlich vor allem Konsum und Besitz bedeutet.
Nach dem Einstieg wird diesen Alltagstoden keine weitere Beachtung geschenkt. Einige der erzählerischen Vignetten sind durch zwei Handlungsreisende für Scherzartikel verbunden. Mit ausdruckslosen Gesichtern und im grauen Anzug versuchen Sam (Nils Westblom) und Jonathan (Holger Andersson) den Klassiker – ein Gebiss mit Vampirzähnen – und andere altgediente Artikel zu verkaufen. Wenn diese traurigen Gestalten jedoch ihre Artikel vorführen und monoton ihren Satz "Wir wollen den Menschen helfen, Spaß zu haben" aufsagen, glauben weder ihre potentiellen Kunden noch die Zuschauer daran. Vielmehr erscheinen ihre Erlebnisse wie eine absurde und mitunter tragikomische Ansammlung von Momenten. Sam und Jonathan erinnern an Laurel und Hardy, an Don Quixote und Sancho Panza, die in einem Stück von Beckett gelandet sein könnten.

Außerdem gibt es in der Taube immer wieder Szenen mit Telefonaten, in denen stets nur einer der Anrufer zu sehen ist, der den Satz sagt "Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht". Das ist wenig überzeugend, denn das Gesicht ist ausdruckslos, die Blicke schweifen umher, sie stehen lustlos und desinteressiert am Telefon. Neben dem vordergründigen Witz – fast ein running gag – zeigen diese Szenen die Inhaltsleere vieler Gespräche, das Desinteresse am Leben des anderen und floskelhafte, erstarrte Gesprächsrituale. Deshalb betont sogar ein Vorstandsvorsitzender kurz bevor er sich mit einer Pistole in den Kopf schießt noch in einem Telefonat, dass er sich freue zu hören, dass es dem Anrufer am anderen Ende der Leitung gut gehe.

In Anderssons Film wird sehr deutlich, dass Worte kein Verständnis schaffen. Vielmehr muss man genau hinsehen, damit sich die wahre Bedeutung und auch Ironie des Lebens entfaltet. Ebenso wie die ersten beiden Teile von Anderssons "Trilogie um das Menschsein" (Songs from the Second floor und Das jüngste Gewitter) ist auch die Taube formal streng angelegt. Andersson arbeitet viel mit Tableaus, das Bild ist statisch, die Einstellung meist fixiert und die Darsteller bewegen sich selten und wenn sehr langsam durch das Bild. Daher ist ihre Position im Bild wichtiger als das Gesagte. Sie drückt den Platz der Figur in der Geschichte – und des Menschen in der Gesellschaft aus. Darüber hinaus ist wichtig, was im Hintergrund geschieht. Anderssons Bilder sind bestechend scharf – und da er erstmals mit einer digitalen Kamera gearbeitet hat, ist die ohnehin beeindruckende Tiefenschärfe nochmals hervorgehoben.

In einer beklemmend grausam-schönen Szene werden afrikanische Gefangene von britischen Kolonialsoldaten in eine Kupferorgel geführt, unter der Feuer entzündet wird. Schon das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund weist auf die Machtverhältnisse hin. Dann entsteht aus den Klagen der Gefangenen noch schöne Musik – und eine weiße Gesellschaft steht am Rand, trinkt Champagner und beobachtet teilnahmslos diese Szene. Hier verändert Andersson erstmals innerhalb einer Vignette die Position der Kamera und schafft einen bitteren Moment sowie gesellschaftskritischen Kommentar.

In der genauen Komposition seiner Bilder beweist Andersson daher sowohl ein herausragendes Gespür für komisches Timing als auch für erschütternde Groteske. Er verstört und bezaubert – beispielsweise in der schönsten Szene des Films, in der die hinkende Lola sich an die 1940er Jahre erinnert und dazu singt. Insgesamt zeigt sich aber in seinem Film, dass sich die Menschheit seiner Meinung nach auf einen Abgrund zubewegt. Im Gegensatz zu Songs from the Second Floor und Das jüngste Gewitter werden die Menschen aber nicht mehr von den Toten heimgesucht, sondern mit ihren Erinnerungen und Träumen konfrontiert. Dabei offenbart sich, dass das Leben von Gewinnstreben und Absichten bestimmt ist und jeder zuerst an sich selbst denkt.

Andersson selbst beschreibt seinen Stil als "Trivialismus", er will Triviales zu reizvollen Erfahrungen machen. Deshalb sind seine Bildkompositionen auf den ersten Blick banal, aber sie entfalten ihre ganz eigene Schönheit, in der der Mensch über seine Existenz nachdenken kann. Es ist die Aufgabe der Kunst, die Dinge sichtbar zu machen, die man nicht sieht – und genau das gelingt diesem Film. Er überzeugt als Einzelwerk, zusammen mit den beiden Vorgängerfilmen ist Anderssons Trilogie indes ein beeindruckendes ästhetisch geschlossenes Werk über die Bedingungen des Menschenseins.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/eine-taube-sitzt-auf-einem-zweig-und-denkt-ueber-das-leben-nach