Krzyk - Losing Control (2024)

Mit den Toten leben

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eben noch spricht die Laborantin und Bakteriologin Lena (Gina Henkel) bei der langen Autofahrt von ihrer Arbeit nachhause mit ihrem Freund Jakob (Anton Weil), der sich beim Telefongespräch scherzhaft als Catering Service ausgibt und ihre Essenswünsche abfragt. Da endet die heitere Stimmung jäh, als Lena auf der Gegenfahrbahn ein brennendes Fahrzeug sieht und erschüttert anhält, um Feuerwehr und Rettungsdienst zu verständigen. Ganz kurz nur dauert diese bildgewaltig in Szene gesetzte Sequenz und der Schrei der verunglückten Frau, von dem Lena später erzählen wird, ist für uns, das Publikum, nicht zu hören. Und dennoch bleiben uns diese Bilder ebenso im Gedächtnis haften wie der Protagonistin, deren Leben durch den Unfall völlig auf den Kopf gestellt wird.

Krzyk ist polnisch und bedeutet „Schrei“ – und eben jener Schrei wirkt sich auf Lenas Psyche wie ein Alarmsignal aus, ein schrilles Geräusch, das etwas in ihr zum Leben erweckt, das verschüttet war und nur auf einen Trigger gewartet zu haben scheint, um dann mit Macht zurück ins Bewusstsein zu drängen. Was genau das ist, daraus macht der Film kein großes Geheimnis und hebt sich dies auch nicht als finale Überraschung für den Schluss auf. Eher beiläufig erfährt man vom Verlust einer Tochter, die bei einem Unfall ums Leben kam. Sonst aber geht Ewa Wikiel in ihrem Film überaus sparsam mit den Hintergründen ihrer Figuren um, vieles muss man sich zusammenreimen, manches bleibt im Ungefähren wie beispielsweise die genaue Verortung. Dass Lenas Familienhintergrund polnisch ist, wird einmal kurz erwähnt, dass sie in Polen arbeitet, erschließt sich über die Gespräche, ebenso die Tatsache, dass sie und Jakob von Berlin weggezogen sind, wovon noch das Autokennzeichen zeugt. Und, so kann man weiter vermuten, der Umzug in die fremde und fremdgebliebene Umgebung dürfte eine Reaktion auf den Verlust gewesen sein, der das heimliche emotionale Zentrum dieses Films bildet. Ausbuchstabiert wird dies alles aber nicht.

Zu diesem grundsätzlichen Gefühl der Desorientierung, mit dem die Regisseurin von Beginn an operiert, kommen bald andere sicht- und hörbare Störungen hinzu. Schlaglichtartig durchzucken Flashbacks, Erinnerungsfetzen und Albträume Lenas Leben und mehr als einmal fragt man sich, ob das, was wir gerade sehen, real ist oder nur ein Produkt von Lenas ins Schlingern geratenem Bewusstsein.

Unter dem Eindruck des Erlebten beginnt Lena, aus ihrem gewohnten Trott auszubrechen, sie recherchiert den Namen der bei dem Unfall Verstorbenen, sucht deren Mann auf und beginnt eine nahezu erotische Beziehung mit ihm, begegnet einer anderen Frau, die ein Verhältnis mit dem Unfallopfer hatte und verliert sich immer mehr in einem Taumel aus Realität, Erinnerung und Projektionen, die ihr mühsam errichtetes Konstrukt einer scheinbaren Normalität ins Wanken bringen. 

Diese stark fragmentierte Erzählweise des Andeutens und des Rätselhaft-Mysteriösen, das zwischen subtilem Horror, Psychodrama  und Krimielementen oszilliert, funktioniert gut – das liegt vor allem an der besondere Art der Inszenierung, an den expressiven Bildern (Kamera: Konstantin Minnich), der ausdrucksvollen Musik (Hannah von Hübbenet) und dem starken Spiel des Ensembles. 

Auslöser für den Film der 1989 in Warschau geborenen Regisseurin war ein Ufall, den Ewa Wikeil selbst miterlebt hat. Der Schrei, den sie damals hörte, beschäftigte auch sie so sehr, dass sie um diesen Schock herum ihren eindrucksvollen Erstling baute. Und so verwundert der emotionale Sog kaum, den sie mit ihrem starken Debüt voller Leerstellen und Mysterien hervorruft. Es ist eine Reise ins Herz der seelischen Finsternis, ein stellenweise berückender Trip in die dunkeln Abgründe eines vergrabenen Traumas.

Gesehen auf dem Festival Max Ophüls Preis 2024.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/krzyk-losing-control-2024