Mustang (2015)

Verlorene Unschuld

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Es ist der letzte Schultag vor den Sommerferien. Freundinnen und Lehrerinnen werden verabschiedet, dann beschließen die fünf Schwestern Sonay (Ilayda Akdoğan), Selma (Tuğba Sunguroğlu), Nur (Doğa Zeynep Doğuşlu), Ece (Elit Işcan) und Lale (Günes Sensoy) zu Fuß am Strand nach Hause zu laufen. Ihre Schulkameraden begleiten sie, sie ärgern einander, irgendwann liefern sie sich eine Wasserschlacht. Das ist ein eigentlich harmloser Spaß, aber zu Hause werden die Mädchen von ihrer erbosten Großmutter (Nihal Koldaş) erwartet. Sie hätten sich 'an Jungs gerieben’. so habe sie gehört. Erbost verhaut sie die Mädchen nacheinander, abends kommt ihr Onkel Erol (Ayberk Pekcan) angestürmt und verkündet, sich fortan um die Erziehung mehr zu kümmern. Telefone und Computer sind ab sofort verboten, die Mädchen dürfen außerhalb des Hauses keine T-Shirts, Shorts oder Jeans mehr tragen und das Haus nicht ohne Begleitung verlassen. Außerdem müssen sie sich vom Arzt untersuchen lassen, damit ihre Jungfräulichkeit bestätigt wird. Immer stärker werden die Mädchen eingeschränkt, die Gitter und Mauern um das Haus werden immer höher. Und gehen sie doch einmal ins Dorf, tragen sie bräunliche, formlose Kleider, damit die anderen Bewohner sehen, wie sittsam sie sind. Das Drama ist in Mustang zweifellos vorprogrammiert – und beginnt spätestens, als ein Mädchen nach dem anderen verheiratet werden soll.

Die Geschichte, die sich nun entfaltet, ist in ihren Grundzügen aus Filmen (z.B. Die Fremde, Gegen die Wand) und Berichten über unterdrückte Mädchen und Frauen in streng religiösen Gesellschaften bekannt: Die älteste Schwester Sonay kann immerhin verhindern, einen Fremden zu heiraten, sondern bringt ihren Freund dazu, sie zu ehelichen. Selma ergibt sich in ihr Schicksal, heiratet den von Sonay Verschmähten und nimmt sogar hin, dass sie abermals ihre Jungfräulichkeit bescheinigen lassen muss, nachdem auf dem Bettlaken in der Hochzeitsnacht kein Blut zu sehen ist. Die drei jüngeren Mädchen denken sich anfangs Fantasiewelten aus, in denen sie schwimmen gehen oder herumlaufen, aber die Realität hält mit aller Brutalität Einzug. Es ist jedoch weniger die Geschichte als vielmehr die Inszenierung, durch die Denize Ergüvens Debüt besticht. Die vorhersehbaren Schicksale werden mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit inszeniert, die insbesondere für die enge Verbundenheit der Schwestern betörende Bilder findet. Von Anfang an erscheinen sie als Einheit, durch die Ereignisse rücken sie zudem zunächst noch näher zusammen. Immer wieder liegen sie nebeneinander, ihre Körper und langen Haare sind dann so miteinander verbunden, dass sie kaum zu unterscheiden sind. Sie ärgern einander und streiten sich, aber ihre Nähe kontrastriert das Gefängnis, in dem sie leben. In den flirrenden Bildern kann man beinahe sehen, wie sich ihre Zukunftspläne in Luft auflösen – und sich das Band zwischen den Mädchen allmählich lockert.

Dadurch durchzieht den Film immer stärker ein melancholischer Ton, der an Sophia Coppolas Virgin Suicides erinnert. Jedoch hat sich Denize Ergüven klugerweise dazu entschieden, die jüngste Schwester zur Erzählerin des Films zu machen. Sie ist die größte Rebellin und kann nicht verstehen, warum ihre Schwestern nach und nach aufgeben. Vielmehr verharrt sie in einer kindlichen Unbeirrbarkeit, die ihr den notwendigen Mut gibt – und sie in der entscheidenden Situation handeln lässt. Als sie nach der Doppelhochzeit der ältesten Schwestern plötzlich von ihnen getrennt sind, bekommt Lale – und mit ihr der Zuschauer – mit, was zudem in diesem Haus vor sich geht, so dass sich ihr Plan zur Flucht verfestigt.

Sicher erweist sich der Onkel als (zu großes) Klischee des bösen Mannes, dennoch macht Denize Ergüven insgesamt deutlich, dass nicht alle Männer oder gar die türkische Gesellschaft insgesamt mit den Handlungen des Onkels einverstanden sind. So findet beispielsweise Lale Hilfe bei einem Mann; zudem sind es nicht nur die Männer, die die Frauen einsperren wollen, sondern auch die älteren Frauen meinen, dass sich die Mädchen an ihre neue Rolle gewöhnen werden. Natürlich geschieht dies in den vermeintlich „besten Absichten“, denn sowohl die Großmutter als auch Tante glauben, sie würden den Mädchen helfen. Sie sehen nicht, dass sie mit ihrer Duldung und ihrer Kontrolle dazu beitragen, dass dieses System der Unterdrückung aufrechterhalten bleiben kann. Und in dieser Aussichtslosigkeit bleibt letztlich nur die Stadt als Sehnsuchtsort, an dem eine größere Freiheit möglich ist.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mustang-2015