Krähen - Die Natur beobachtet uns (2023)

Dem Menschen so nah

Eine Filmkritik von Dobrila Kontić

So richtig wohl ist wahrscheinlich niemandem beim Anblick eines am Himmel aufziehenden, krächzenden Krähenschwarms. Die dunkel befiederten Angehörigen der Gattung Corvus wecken eher negative, in unterschiedlichsten Kulturen tief verankerte düstere Assoziationen: Verschrien als Botschafter der Unterwelt, gilt das Auftauchen von Raben und Krähen vielen als böses Omen, das Unglück und Tod vorhersagt. Diverse Romane, Filme, Serien tragen bis heute zu diesem düsteren Bild bei, man denke an die mörderischen Krähen, die in Hitchcocks "Die Vögel" Schulkinder angreifen, die für das Überbringen schlechter Nachrichten abgerichteten Raben aus "Game of Thrones" oder zuletzt die allwissenden Krähen, die die beiden Pechvögel aus der Netflix-Serie "Beef" seit früher Kindheit verfolgen. Dabei sind Krähen und Rabenvögel dem Menschen sehr viel näher, als wir bislang ahnten – diese These eröffnet die aufwendige Doku "Krähen – Die Natur beobachtet uns" des Schweizer Regisseurs Martin Schilt, der 2012 mit seinem Film "Die Wiesenberger" über den unverhofft plötzlichen Ruhm einer Jodeltruppe auf sich aufmerksam machte.

Nachdem eine Schwarzweiß-Animation die Menschheitsgeschichte aus Sicht ihrer stets präsenten „schwarzen Schatten“ im Schnelldurchlauf vorüberziehen lässt, gelangt Krähen bei der Gegenwart an, in der diverse Forscher*innen sich mit der Historie und den Eigentümlichkeiten dieser Gattung befassen. Ihnen zufolge hat die seit der Steinzeit bestehende stete Nähe zum Menschen vor allem pragmatische Gründe: Als Alles- und Aasfresser haben Krähen den Menschen als effizienten Jäger zu schätzen gelernt und es auf die Reste seiner Beute abgesehen.

Andersherum war der Verzehr von Krähen und Raben unter den meisten Völkern eher ein Tabu, hebt der im US-Bundesstaat Maine forschende Zoologe Bernd Heinrich hervor. Heinrich, der in dieser Doku als rüstiger Naturfreund im Winter durch die dichten Wälder Maines streift und sommers beim flinken Klettern und nackten Sprung in den See zu sehen ist, hat nicht nur wissenschaftliches Interesse an diesen Vögeln. Mehrfach habe er als Kind einzelne Krähen eingefangen und zu treuen Gefährten aufgezogen, erinnert er sich. Um so trauriger wirkt er, als die Kamera ihn im Frühjahr beim Spaziergang durch den Wald filmt und er feststellt, dass die Krähen aus der Region in diesem Jahr hier nicht mehr nisten.

Woran das liegt, erläutert Elke Heidenreichs wohldosiert eingesetzte Stimme aus dem Off, die gemeinsam mit den eingestreuten Animationen eine Rahmenerzählung zur Evolution dieser Gattung bietet: Krähen und Rabenvögel seien „Chronisten unserer Gewohnheiten und Zeugen tiefgreifender Veränderungen“. Um aufzuzeigen, welche das sind, spannt dieser Dokumentarfilm einen weiten globalen Bogen und steuert unter anderem die Großstädte Wien, Tokyo, Delhi an: Hierhin, im urbanen Treiben der Menschen, haben Krähen ihre Reviere verlegt und greifen ab, was der Mensch fallen oder liegen lässt. Wir sehen Krähen auf flinkem Streifzug nach Snack-Abfällen am Wurstelprater in Wien, bei der Belagerung der riesigen Müllberge Delhis oder entdecken in den Bäumen Tokyos stabile Nester, die die anpassungsfähigen Tiere aus entwendeten Drahtkleiderbügeln geformt haben. 

Was sie hierzu befähigt, ist den interviewten Forschenden zufolge ein angeborener Hang zur Neugier und Verspieltheit – „Neophilie“ nennt das Bern Ulrich. Andere Wissenschaftler betonen darüber hinaus, dass Krähen und Raben sich deutlich von dem mitunter roboterhaft erscheinenden Gebaren anderer Vogelarten unterscheiden. Sie könnten ihre Stimmen gegenseitig erkennen und entsprechend via Territorial- und Alarmlauten miteinander kommunizieren. Spannend wird es, als John Marzluff von der University of Washington in Seattle seine Entdeckungen offenbart: Krähen könnten sich auch Menschengesichter einprägen und voneinander unterscheiden. Marzluff selbst erprobt das, indem er mit einer grausigen Höhlenmenschenmaske über den Campus schlendert und seine Beobachtungen am Klemmbrett notiert, zur Belustigung aller an ihm vorbeihuschenden Studierenden.

Krähen hat noch einiges mehr an erhellenden Erkenntnissen über die Intelligenz dieser Vögel zu bieten. Auf der französischen Inselgruppe Neukaledonien laufen diese Fähigkeiten aufgrund der Abwesenheit natürlicher Feinde zur beeindruckenden Höchstform auf. Die Verblüffung darüber, wie nahe Krähen dem Menschen in Sachen Mustererkennung und Lernbereitschaft doch sind, erarbeitet sich dieser fein abgestimmte, seinen enormen Aufwand mit einer gewissen Verspieltheit kaschierende Dokumentarfilm auf aufrichtige Weise. Seine gewagtesten Thesen über kollektives Wissen unter den Krähenschwärmen kann Krähen dabei zwar nur streifen, nichtsdestotrotz flößt er dem menschlichen Blick auf die krächzenden Wesen deutlich mehr Faszination ein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/kraehen-die-natur-beobachtet-uns-2023