The Holdovers (2023)

Einsamkeit als dünnes Gewand

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Kein Kostümfilm, aber ein kostümierter Film: „The Holdovers“ von Alexander Payne trägt die Siebzigerjahre am Leib wie den Pelz eines erlegten Tieres. Oder wie Ed Gein seine Opfer. Das Drama will nicht einfach an Filme aus der Zeit von New Hollywood erinnern, sondern träumt in jedem Bild davon, tatsächlich einer von ihnen zu werden. Ein vergessenes Glanzstück aus dem Frühwerk von Hal Ashby vielleicht, liebevoll in Szene gesetzt von Gordon Willis. Nur, dass eben der dänische Kameramann Eigil Bryld hinter der ARRI Alexa Mini stand und vergangene Epochen mit warmen Gelbtönen in der Farbkorrektur und falschem Filmkorn heraufbeschwört. Die Logos von Vertrieb und Produktionsfirma werden in Versionen von 1970 präsentiert – und das, obwohl Miramax 1979 und Focus Features sogar erst 2002 gegründet wurden. So wird schon vor den ersten Aufnahmen eine Vergangenheit simuliert, die es so niemals gab.

Daraus resultiert eine seltsame Stimmung, eine Art ästhetisches Raunen. Wo Filme derart demonstrativ vom guten, echten Kino träumen, meinen sie in der Regel einfach das alte. The Holdovers ist ein nostalgischer Film mit einer nostalgischen Hauptfigur. Der Geschichtsprofessor Paul Hunham (gespielt von Paul Giamatti) ist ein überheblicher Misanthrop, der dem klassischen Bildungskanon nähersteht als seinen Zeitgenossen. Wer Cicero und Demosthenes an seiner Seite weiß, braucht keine weiteren Freunde. Mit offenkundigem Abscheu unterrichtet er an dem exklusiven Internat Barton Academy in Neuengland die privilegierten Söhnchen der Reichen.

Ausgerechnet er soll die Schüler betreuen, die über Weihnachten auf dem Gelände bleiben müssen, weil im Elternhaus kein Platz für sie ist. Unter ihnen ist der begabte Außenseiter Angus Tully (Dominic Sessa), der mit schwierigen Familienverhältnissen ringt. Er verwickelt seine tumben Mitschüler in erhitzte Wortgefechte und man kann sich vorstellen, dass ein Pfad durch sein Leben in die Fußstapfen von Menschen wie Paul führen würde. Angus ist schon von drei Schulen geflogen – scheitert er auch in Barton, wartet nur noch die Militärakademie auf ihn. Auch die Küchenchefin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph) bleibt zurück. Die Witwe hat vor kurzem auch noch ihren Sohn Curtis im Vietnamkrieg verloren. Feiertage sind stets eine Unterbrechung im Rhythmus der Welt. Sie eröffnen Zeit zur Kontemplation – auch über die eigene Einsamkeit.

The Holdovers ist also eine Geschichte von drei traurigen Außenseitern, die lange vor der Feiertagsisolation „Überbleibsel“ waren. Der Außenseiter bekleidet im amerikanischen Kino eine merkwürdige Position. Einerseits liebt die Kamera ihn, den mutig voranschreitenden Individualisten, der über alle Hindernisse inklusive seiner konformistischen Massenmitmenschen triumphiert. Andererseits wird er oft sofort wieder eingegliedert.  Wer wütend, zynisch oder griesgrämig auftritt, muss irgendwann als seelensguter, aber verletzter Mensch enttarnt werden. Man bohrt nach guten Herzen so gierig wie nach Öl.

In dieser Hinsicht ist The Holdovers ein geradezu mechanischer Film. Nahezu jede Figur wird erst auf eine bestimmte Art und Weise vorgestellt – kalt, arrogant, jähzornig, selbstverliebt, aggressiv -, erweist sich dann aber als komplexer als ursprünglich angenommen. Jeder hat seine Gründe und sein Päckchen zu tragen. Selbst die endlos eingesetzten Überblendungen erzählen davon, dass hinter jedem Bild ein anderes verborgen liegt.

Doch wo wirklich jede Erwartung sich in Luft auflöst, stehen wir doch wieder vor einem Klischee – vor dem des Eisbergmenschen, immerzu verborgen unter dem Wasser alltäglicher Erfahrungen. Vom Autor David Foster Wallace stammt eine berühmte Rede namens Das hier ist Wasser, in der er ein Bewusstsein für gesellschaftliche und soziale Automatismen einfordert, ein Heraustreten aus unseren vorgegebenen Pfaden. So wie Fische kein klares Bewusstsein für Wasser haben, weil es sie immerzu umgibt, sollen wir uns den eigenen Solipsismus vorhalten. Was umgibt uns wie das Wasser die Fische? Was liegt in der Luft, ist immer da, aber unsichtbar?

Sicher auch ein Zeitgeist, der Menschen lösen will wie ein Problem. Eine Therapeutisierung des Sozialen. Es gibt weder Feinde noch Fremde, nur potenzielle Freunde. Der Film ist kostümiert, und sogar die Haltungen der Figuren sind dünne Kostüme. Will man wirklich eine Welt, in der das Leben ein endloser Katalog von Selbstoffenbarungen ist? Was die Figuren des Siebzigerjahreskinos interessant macht, ist, dass sie fremd und anders waren – und es oftmals sogar bleiben durften. Die Empathie mit Travis Bickle oder McCabe & Mrs. Miller ist optional. Paynes Film zeigt einen Solipsismus, der andere Menschen vor sich selbst retten will, damit sie endlich gut, also wie wir werden können.

Gewiss, Paul Giamatti wurde auf die Erde gesendet, um eine bestimmte Art von Verlierer zu spielen – kratzbürstige, schrullige Typen, die durch Zwischenmenschliches wie durch Morast waten. Als Oberlehrer ist er ganz ohne Frage unterhaltsam. Er spielt seine Stirnfalten wie eine Ziehharmonika. Sie türmen sich über Feinden wie Flutwellen, wenn er aber sanft und verletzlich wird, glätten sich die Schädelwogen und er zeigt sich weichgezeichnet.

Ein Schauspieler, der jeden Menschen von seinen Fehlern her denkt. Als er für eine HBO-Miniserie US-Präsident John Adams verkörperte, orientierte er sich vor allem an seinen Gesundheitsbeschwerden. Auch Regisseur Alexander Payne stellt in der Regel die Schwächen und Gebrechen seiner Figuren in den Mittelpunkt der Geschichte. Das Ergebnis sind schwarze Komödien, deren Zynismus immer ein wenig vorgeschoben wird. Payne ist zu sanft für die harten Momente und zu hart für die sanften.

Paul etwa stinkt nicht einfach, sondern leidet unter der Stoffwechselstörung Trimethylaminurie. Er hat nicht schwitzige Hände, weil er unsicher ist, sondern wegen Hyperhidrose. Und seine Skepsis gegenüber allzu Süßlichem hat wohl auch mit seiner Prädiabetes zu tun. Payne pathologisiert ganz bewusst, nur eben auch weit über diesen simplen Gag hinaus. Im Verlauf der Geschichte entblättert sich jede Figur, die Urszenen ihrer Trauer werden manifest. Dass er damit seine Erzählung über gesellschaftliche Missstände und Klassenunterschiede – es gibt verschiedene Art von Außenseitern – weitestgehend relativiert, nimmt er scheinbar in Kauf.

So bleibt ein Film, der vor allem will, dass wir lachen und weinen, dann bemerken, dass wir gerade lachen und weinen, uns dann unserer eigenen Komplexität erfreuen, die der Komplexität der Figuren entspricht, wegen denen wir lachen und weinen, und das für alles hält, was Kino leisten kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-holdovers-2023