Der verlorene Zug (2023)

Die Klugheit der Frauen

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Von den Grauen der Nazi-Herrschaft ist oft erzählt worden. Nicht so häufig im Kino zu sehen: die Wirren des gesetzlosen Zustandes, als die Nazis das Weite suchten, aber der Krieg offiziell noch nicht beendet war. Die niederländische Regisseurin Saskia Diesing („Nena", 2014) interessiert sich dabei besonders für weibliche Solidarität als Hoffnungsschimmer und für die Gesten der Menschlichkeit, die im Überlebenskampf eigentlich unwahrscheinlich sind. Ihre Geschichte von einem jüdischen Häftlingstransport, der in der Nähe eines brandenburgischen Dorfes strandet, stellt den Pragmatismus dreier unterschiedlicher Frauen in den Mittelpunkt.

April 1945: Die Tür eines vollgepferchten Güterwaggons geht auf, den Überlebenden der Todesfahrt bietet sich ein absurder Kontrast – sattes Grün, liebliche Hügel, in der Ferne ein kleines Dorf. Ungläubig stolpert die Jüdin Simone (Hanna van Vliet) ins Freie. Träumt sie, sieht so vielleicht das Paradies im Jenseits aus? Ihr starrer Blick ist gezeichnet vor allem vom Hunger, den die Gefangenen auf ihrer zweiwöchigen Irrfahrt erleiden mussten. „Essen“ ist das einzige Wort, das sie über die Lippen bringt, als russische Soldaten sich nähern, unter ihnen die Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin). Aber die Uniformierten haben auch keine Vorräte mehr. Also beschließen sie, mit den Überlebenden ins Dorf zu gehen, Geschäfte, Wohnungen und Lebensmittel zu konfiszieren und sie an die befreiten Juden zu verteilen. Dabei erschießen sie eine sich wehrende Metzgersfrau. Ihre Tochter, die 17-jährige Winnie (Anna Bachmann), muss das mit ansehen. 

Was es mit diesem Zug auf sich hat, der aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen kam, erklärt der Film knapp und anschaulich im Vorspann, mit animierten Karten und einer weiblichen Stimme aus dem Off. Den „Verlorenen Zug“ gab es wirklich, die Fakten und Hintergründe sind genau recherchiert: auch die Typhus-Epidemie, die sich im Zug ausgebreitet hat und die nun auch auf das Dorf übergreift, weil der Penicillin-Nachschub der Roten Armee wegen gesprengter Brücken nicht vorwärts kommt. Saskia Diesing, die in Deutschland geboren wurde und seit ihrem 8. Lebensjahr in den Niederlanden lebt, hat einen persönlichen Bezug zu der ungewöhnlichen und wenig bekannten Geschichte. Einer ihrer Onkel hat als Baby die Irrfahrt und die Typhus-Gefahr überlebt.

Frei erfunden sind jedoch die drei Heldinnen, die einander zu Beginn misstrauisch beäugen. Die 29-jährige Holländerin Simone will vor allem ihren kranken Geliebten Isaac (Bram Suijker) retten und vor den Russen verstecken, die ihn ins katastrophal ausgestattete Feldlazarett bringen würden. Die glühende Hitler-Verehrerin Winnie hasst die Juden, und die Russen noch viel mehr. Und die 21-jährige Rotarmistin Vera wiederum verachtet die Deutschen, schützt deren Frauen jedoch vor Vergewaltigung. Die latente Feindseligkeit und die allseitige Gefahr erinnern an Cate Shortlands Film Lore (2012) mit seinen durch Deutschland irrenden Kindern, ebenfalls kurz vor Kriegsende.

Es liegt eine nervenzerreißende Spannung in den oft ruhigen Bildern von Kameramann Aage Hollander. Alles kann passieren in diesem anarchischen Zwischenzustand, der sich verschärft, als die Russen das Dorf absperren und unter Quarantäne stellen müssen. Überleben ist Glückssache, Rache liegt in der Luft, und sie wäre nur allzu verständlich. Aber es schleicht sich auch Hoffnung in die einfühlsamen Großaufnahmen und schnörkellosen Einstellungen ein. Saskia Diesing bevorzugt die kleinen Gesten, um vom langsamen Keimen weiblicher Solidarität zu erzählen: ein verständnisvoller Blick, ein Glas Wodka am Wohnzimmertisch, das Nähen eines Kleides. Der Film nimmt sich Zeit für die unwahrscheinliche Annäherung. Er konzentriert sich auf pragmatische Klugheit inmitten heilloser Zerstörung. Ganz beiläufig richtet er den Blick auf traditionell mit Weiblichkeit assoziierte und sehr wichtige Fähigkeiten: sich einfühlen, jemanden pflegen, ein Stück Normalität herstellen.

Der verlorene Zug packt seine simple Botschaft von der Kraft der Mitmenschlichkeit nicht in dick aufgetragene Parolen. Er lässt sie durchschimmern unter dem Gewebe eines geradlinig und auch ein bisschen konventionell aufgezogenen Historienstoffes. Das einfach Gestrickte passt aber hervorragend zu den existenziellen Themen, die das Drama verwebt. Es lässt die emotionale Kraft grundlegender Wahrheiten umso deutlicher hervortreten: Aufbauen ist allemal besser als Kaputtschlagen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Diktatoren der Welt meist Männer sind.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-verlorene-zug-2023