Bigger Than Us (2021)

Tut was!

Eine Filmkritik von Clementine Engler

Ein monströser Berg aus stinkendem Müll und jeden Tag kommen sechstausend Tonnen dazu – Bantar Gebang heißt die größte Müllkippe Indonesiens, die am Rande der Hauptstadt Jakarta wächst. Die Menschen, die sich auf dieser bewegen, tagtäglich nach Verwertbarem wühlen oder mit Baggern Massen hin und her schippen, wirken dagegen wie verschwindend kleine Figuren.

Melati ist erst achtzehn Jahre alt und hat bereits einiges gegen die Verschmutzung in ihrer Heimat bewirkt. Bye Bye Plastic Bags heißt die Kampagne, die sie mit zwölf Jahren ins Leben gerufen hat und die das Verbot des Verkaufs und der Verteilung von Plastiktüten, Verpackungen und Strohhalmen auf der Insel Bali verursachte. Neben ihrem eigenen Kampf gegen Verschmutzung ermutigt sie junge Menschen zum Handeln. Den Nutzen des eigenen Handelns für das große Ganze zu erkennen, darum gehe es ihr. Der Dokumentarfilm Bigger Than Us von Flore Vasseur begleitet Melati auf eine Reise von Kontinent zu Kontinent, um sechs andere Aktivist*innen zu treffen. Sie möchte die Stärke des Kollektivs spüren und so das Gefühl von Verlorenheit in einer ungerechten Welt überwinden. Sie begegnet Menschen, die sich in der Seenotrettung engagieren, Mädchen und Frauen ermächtigen, Bildung für alle fordern, für Meinungsfreiheit eintreten und Nahrungsmittel sicherstellen wollen. Es sind Menschen ihrer Generation, die dieselbe Energie teilen und sozialen Wandel bewirken wollen.
 
Ein Stopp auf Melatis Route ist in Malawi, wo über vierzig Prozent der Mädchen vor ihrem achtzehnten Lebensjahr verheiratet werden, so eine Einblendung im Film. Deshalb fordert die 22-jährige Memory mehr Rechte für Frauen. Durch ihren Aktivismus bewirkte sie schon die Auflösung einer grausamen Tradition: Mädchen wurden nach dieser, mit dem Eintreten ihrer ersten Menstruation, in ein sogenanntes Initiationslager geschickt und dort vergewaltigt. Wurden sie schwanger, mussten sie ihren Peiniger heiraten. Um Mädchen vor einer solchen Zwangsheirat zu schützen, verursachte Memory eine Verfassungsänderung, die das Heiratsalter von fünfzehn auf achtzehn Jahre angehoben hat. Mädchen sollen länger zur Schule gehen und dadurch ihre Unabhängigkeit sichern.

Von Malawi geht es nach Brasilien - eine weitere Station auf Melatis Reise - wo sie Rene trifft. Sein Kampf gilt der Meinungsfreiheit in den Favelas. Viel zu oft zeichnen Medien ein verzerrtes Bild der Slums und verbreiten dadurch gezielt Lügen. Deshalb gründete der jetzt 25-Jährige mit elf Jahren eine eigene Zeitung, in der Anwohner*innen von Ungleichheit, Rassismus und Widerstand erzählen. Sein Netzwerk aus Berichtenden ist über die Jahre enorm gewachsen und zählt mittlerweile um die 250 Personen.

Bigger Than Us geht in die Kindheitstage der Aktivist*innen zurück, erzählt von ihrem Anstoß zum Handeln und ihrem jahrelangen Kampf, von Niederschlägen und Erfolgen, von Ängsten und Hoffnungen. Die Protagonist*innen des Films haben gemeinsam, dass sie jung sind und unzufrieden mit dem Zustand der Welt. Ihre individuellen Geschichten verweben sich miteinander – was der Film durch die schnelle Montage suggeriert, in der sich die Porträts der Aktivist*innen gegen Ende des Films verbinden. Es soll die Stimme einer Generation abgebildet werden, deren Aktivismus identitätsstiftend ist. Es geht um ein gemeinsames Gefühl des Zusammenhalts, das der Film vermitteln wird. 

Dieses Anliegen wird offensichtlich, wenn Melati zum Schluss die vierte Wand durchbricht, die Zuschauer*innenschaft adressiert. Ein Aufruf zum Engagement: Junge Menschen beheben bereits auf der ganzen Welt die Missstände, sei auch du Teil davon, so die Message des Films. Das aktivistische Anliegen findet in der Umsetzung keine Entsprechung: Bigger Than Us ist zwar niedrigschwellig in der Aufbereitung der Informationen, baut durch seine cleane Ästhetik, die stellenweise an einen Werbeclip erinnert, und die Zeichnung der einzelnen Protagonist*innen als Best Practice Beispiele, eine spürbare Distanz auf.

Häufige Kamerafahrten halten die gestochen scharfen und farbenkräftigen Bilder in einem ständigen Fluss, suggerieren etwas Konstruiertes, das durch die emotionalisierende Musik und das immer gleiche Outfit der Erzählerin gestärkt wird. Die Errungenschaften der Aktivist*innen sind unbestreitbar beeindruckend, aber die dominante Fokussierung darauf, erschwert es, eine Verbindung zu sich selbst herzustellen.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/bigger-than-us-2021