Unter den Sternen von Paris (2020)

Kälte und Wärme

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

„Unter den Sternen von Paris“ – das klingt zunächst einmal überaus romantisch. Doch den Titel von Claus Drexels neuem Film müssen wir wörtlich nehmen, denn er beschreibt keine kuschelige Beobachtung des Himmels in der Stadt der Liebe, sondern die Lebenssituation der Protagonistin Christine (Catherine Frot), die seit einiger Zeit obdachlos ist.

Bereits in seiner dokumentarischen Arbeit Au bord du monde (2013) hat sich Drexel mit dem Thema befasst. Mit seinem Co-Autor Olivier Brunhes erzählt er nun eine fiktive Geschichte und setzt dabei in der Inszenierung auf eine Mischung aus Authentizität und poetischem Realismus. Die Bilder eines Hausbrandes, die wir während des Vorspanns sehen, lassen an Leos Carax’ Die Liebenden von Pont-Neuf (1991) denken. Auch später wird dessen märchenhafte Atmosphäre aufgegriffen, etwa wenn ein Straßenmusiker Franz Schuberts Der Leiermann interpretiert. Insgesamt schlägt Unter den Sternen von Paris indes deutlich ruhigere Töne als Carax’ überbordendes Werk an.

So steht am Anfang eine Reihe von Beobachtungen, um in Christines Alltag einzuführen. Wir sehen, wie die Frau, die vermutlich in ihren 60ern ist, bei der Essensausgabe für Obdachlose sitzt, wie sie auf einer Bank mit einem Vogel kommuniziert und wie sie in einem kleinen Versteck zwischen der Seine und den Zuggleisen Schlaf zu finden versucht. Es ist Winter – und wir spüren die Kälte. Wenn sich die preisgekrönte Schauspielerin Catherine Frot mit dunklem Mantel, riesiger Kapuze, mehreren Schals sowie vollgepackten Taschen und Tüten durch die Stadt bewegt, mutet sie dabei nicht wie ein verkleideter Star des französischen Kinos an. Ihr gelingt mit ihrer ruppigen und rauen Art eine sehr glaubhafte Darstellung. In mancher Hinsicht bleibt Christine eine rätselhafte Figur. Wie sie in die Obdachlosigkeit geraten ist, bleibt unklar. Offenbar war sie einst als Naturwissenschaftlerin tätig, hatte einen Mann und einen kleinen Sohn.

Drexel vermeidet es, die Situation von Menschen ohne festen Wohnsitz für seine Erzählung auszubeuten oder zu romantisieren. Vielmehr wirft er seinen präzisen, dokumentarisch geschulten Blick auf die Orte, an denen Obdachlose sich aufhalten – auf improvisierte Schlafstätten am Straßenrand oder unter Brücken, auf die Zeltstädte von Geflüchteten und später auch auf irreal erscheinende Nicht-Orte wie den Flughafen.

Eine Begegnung zwischen Christine und dem jungen Geflüchteten Suli (Mahamadou Yaffa) aus Eritrea, der kein Wort Französisch beherrscht und seine Mutter sucht, treibt die Handlung voran. Dadurch ergeben sich neue Facetten. Ein Mitarbeiter der Stadt zeigt sich beispielsweise überraschend hilfsbereit gegenüber Christine, reagiert jedoch offen rassistisch, als er sie zusammen mit Suli sieht. Die Kälte liegt nicht ausschließlich in der Jahreszeit, sondern auch in solchen Verhaltensmustern. Ohne in den sentimentalen Kitsch abzudriften, lässt Drexel aber auch die zwischenmenschliche Wärme erkennen. Bei aller Erschöpfung findet Christine die Kraft, Suli zu helfen und nach dessen Mutter zu suchen. So wird Unter den Sternen von Paris zu einem Film, der zwischen realistischer Betrachtung und dem Willen zur Hoffnung einen überzeugenden Weg geht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/unter-den-sternen-von-paris-2020