Wir beide (2019)

Hart erkämpfte Zweisamkeit

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Schein und Sein, Täuschung und Wirklichkeit. Die Französin Madeleine (Martine Chevallier), genannt Mado, und die Deutsche Nina (Barbara Sukowa) sind Nachbarinnen in einem städtischen Wohnhaus in Südfrankreich. Das jedenfalls lassen die beiden ihr Umfeld glauben. Niemand – auch nicht Mados erwachsene Kinder Anne (Léa Drucker) und Frédéric (Jérôme Varanfrain) – weiß, dass die verwitwete Mado und die ehemalige Reiseleiterin Nina seit vielen Jahren ein Paar sind. Ihren Lebensabend wollen sie nun in Rom verbringen – doch Mado schafft es nicht, Anne und Frédéric von ihrem Plan zu erzählen. Als Mado einen Schlaganfall erleidet und sich nicht mehr artikulieren kann, muss Nina dafür kämpfen, ihr weiterhin nahe sein zu können.

Vieles an Filippo Meneghettis Spielfilmdebüt Wir beide ist bemerkenswert. So etwa das audiovisuelle Talent des Regisseurs, das sich bereits in der Eröffnungssequenz offenbart. Darin sehen wir zwei Mädchen beim Versteckspiel. Eines der beiden huscht hinter einen Baum – und ist verschwunden. Das andere Mädchen bleibt ratlos rufend zurück; statt der Rufe hören wir die Laute der Krähen. Schon diese ersten Minuten haben eine gewisse Genre-Anmutung, die in einem melodramatisch klingenden Stoff nicht unbedingt zu erwarten wäre. Dies setzt sich im weiteren Verlauf fort – und mag zuweilen irritieren. Wenn durch Türspione hindurch gefilmt wird oder Nina durch Mados Wohnung schleicht und dabei von der eingestellten Pflegerin Muriel (Muriel Bénazéraf) nicht entdeckt werden darf, entstehen Suspense-Momente, die an Alfred Hitchcock erinnern. Die seit Jahrzehnten etablierten Methoden der kinematografischen Spannungserzeugung werden hier genutzt, um etwas zu schildern, was wir im Kino noch deutlich zu selten gesehen haben: die Gefühlswelten eines älteren lesbischen Paares.

Das Drehbuch, das Meneghetti zusammen mit Malysone Bovorasmy und Florence Vignon entwickelt hat, stellt die Liebe zweier Frauen in den Mittelpunkt, die bisher ein gemeinsames Leben im Verborgenen geführt haben. Während von Mados Ehe mit dem Vater ihrer Kinder zahlreiche Erinnerungsstücke geblieben sind, die Mados Apartment beinahe wie einen Antiquitätenladen wirken lassen, gibt es von der Beziehung zu Nina keine (offenkundig) sichtbaren Spuren. Eine zweite Zahnbürste im Badezimmer wird von Frédéric bemerkt, als dieser ein paar Sachen für seine im Krankenhaus liegende Mutter einpacken soll. Als Nina nach dem Vorfall in ihre eigene, gegenüberliegende Wohnung ausweichen muss, ist dort noch nicht einmal der Kühlschrank eingeschaltet; Möbel sind kaum vorhanden – die Wohnung diente in erster Linie zur Wahrung des Scheins. Während schon Michael Haneke in Liebe (2012) auf eindrucksvolle Weise zeigte, wie zwei Menschen im hohen Alter für selbstbestimmte Zweisamkeit und gegen Krankheit sowie die Eingriffe von außen kämpften, kommt in Wir beide der Kampf um eine grundsätzliche Anerkennung der Beziehung hinzu.

Zu den großen Stärken des Films zählt schließlich die gelungene Besetzung der Hauptrollen. Die theatererfahrene Martine Chevallier spielt Mado als introvertierte Person, die sich stets dazu gezwungen sah, ihre Gefühle zurückzuhalten. Zum Kraftzentrum entwickelt sich Barbara Sukowa, die als entschlossen Kämpfende eine gehörige Portion Forschheit mitbringt. Die beiden bilden ein Paar, das nicht einfach nur tragisch und rührend ist, sondern dem sich bis zum finalen Tanz ganz klar anmerken lässt, dass es auf eine lange Zeit des gemeinsamen Glücks zurückblicken kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wir-beide-2019