Gretel & Hänsel (2020)

Gretel findet zu sich

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Immer wieder kamen in den letzten Jahren Märchenstoffe auf die große Leinwand. Neben Schneewittchen – etwa in "Snow White and the Huntsman" – und Aschenputtel in "Cinderella" erhielten auch Hänsel und Gretel einen neuen Auftritt. Der Fantasy-Action-Film "Hänsel und Gretel: Hexenjäger" nimmt allerdings nur kurz Bezug auf die bekannte Grimm-Vorlage und schreibt vielmehr die Geschichte der Geschwister fort, die sich hier nach ihrer Konfrontation mit der Hexe zu berüchtigten Kopfgeldjägern entwickeln. Deutlich näher am Ursprungswerk bleibt dagegen die dritte Regiearbeit von Osgood Perkins, dessen Vater Anthony als Norman Bates in Hitchcocks Spannungsklassiker "Psycho" für Angst und Schrecken sorgte. Das Gruseldrama "Gretel & Hänsel" orientiert sich am Handlungsgerüst des Märchens, legt den Schwerpunkt aber – das lässt der Namenstausch im Titel bereits erahnen – auf die weibliche Hauptfigur.

Die jugendliche Gretel (Sophia Lillis) und ihr kleiner Bruder Hänsel (Samuel Leakey) leben in einer finsteren Zeit und einer unbarmherzigen Welt, in der man nichts geschenkt bekommt. Auf der Suche nach einer Anstellung gerät die Teenagerin an einen Mann, der offenkundig bloß sexuelle Intentionen verfolgt. Als Gretel daraufhin den Job entrüstet ablehnt, werden sie und Hänsel von ihrer erzürnten Mutter (Fiona O’Shaughnessy) kurzerhand vor die Tür gesetzt. Auf sich allein gestellt, schlagen sich die beiden durch den finsteren Wald und stoßen irgendwann auf ein einsames Häuschen mit einer reichhaltig gedeckten Tafel. Holda (Alice Krige), die Besitzerin der Hütte, lädt die Geschwister zu sich ein, lässt sie speisen und bietet ihnen Obdach an. Der Aufenthalt bei der alten Frau ist Gretel aber von Anfang an nicht ganz geheuer. Und schon bald nähren unheimliche Visionen ihre Zweifel an der vordergründig hilfsbereiten Gastgeberin.

Dass er schaurige Stimmungen gekonnt in bewegte Bilder zu gießen weiß, demonstrierte Osgood Perkins schon in seinen ersten Filmen: Die Tochter des Teufels und I Am the Pretty Thing That Lives in the House. Auch Gretel & Hänsel produziert gleich mit seinem Prolog über ein Mädchen mit besonderen Gaben ein unheilvoll-bedrohliches Klima. Der Einstieg macht Lust auf mehr, auch wenn zunächst offenbleibt, wie genau er mit der Haupthandlung zusammenhängt.

Den im Märchen angelegten Horroraspekt kehrt der Regisseur mit akustischen und optischen Mitteln versiert nach außen. Die gefährlich dröhnende Tonspur gibt die Richtung vor. Und auch die eigenwillig ausgeleuchteten Bilder, deren Ränder oft verschwommen sind, tragen zu einem konstanten Unbehagen bei. Ein traumgleiches, seltsam entrücktes Gefühl erzeugt der Film besonders durch sein markantes Farbenspiel, das ein wenig an den expressiven Stil des Giallo-Meisters Dario Argento erinnert. In einem beklemmend wirkenden, kränklich-gelben Licht präsentiert sich beispielsweise das Innere des Hexenhauses. Obwohl Perkins atmosphärisch vieles richtigmacht, wendet er vereinzelt – etwa in Gretels wiederkehrenden Albträumen – eher schlichte, konventionelle Schocktaktiken von spürbar geringerer Wirkung an.

Ähnlich reizvoll wie die visuelle und klangliche Gestaltung ist die Idee, den bekannten Märchenstoff zu einer Coming-of-Age-Erzählung auszuweiten. Das von Rob Hayes verfasste Drehbuch zeichnet Gretel als junge Frau an der Schwelle zum Erwachsensein und legt schon sehr früh Hinweise aus, dass in ihrem Inneren ungewöhnliche Kräfte schlummern. Fähigkeiten, die es zu wecken und kanalisieren gilt. Die Begegnung mit der Hexe Holda löst schließlich einen Erkenntnisprozess aus, bei dem die Jugendliche nicht nur einen neuen Blick auf sich gewinnt, sondern auch ihre Beziehung zu Hänsel hinterfragt. Fühlte sie sich bislang stets für ihren kleinen Bruder verantwortlich, drängt sich auf einmal der Gedanke auf, dass er ein Klotz am Bein sein und ihre eigene Entfaltung behindern könnte.

So vielversprechend dieser Ansatz klingen mag, so selten wird ihm der Film jedoch gerecht. Die Handlung schlägt zwar ein betont gemächliches Tempo an. Zugleich wirkt Gretels Reise aber ungenau und überhastet. Ambivalenzen werden nicht konsequent genug herausgearbeitet. Und die emotionale Wucht, die aus der Prämisse entspringen könnte, bleibt größtenteils auf der Strecke. Egal, wie sehr sich die charismatische Sophia Lillis auch bemüht. Dass Perkins einiges an Potenzial verschenkt, veranschaulicht ein Vergleich mit Robert Eggers‘ preisgekröntem Horrordrama The Witch von 2015, das die Emanzipation seiner weiblichen Hauptfigur nuancierter und eindringlicher ausmalt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/gretel-haensel-2020