Midsommar (2019)

Der Schmerz des Neubeginns

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Mit seinem Langfilm-Debüt „Hereditary – Das Vermächtnis“ wurde Ari Aster im vergangenen Jahr schlagartig zu einem der neuen Hoffnungsträger des Horror-Genres. Dank eines präzise durchgetakteten Drehbuchs, herausragender Darsteller und der virtuosen Arbeit von Kameramann Pawel Pogorzelski schuf Aster einen der beklemmendsten Schocker der letzten Jahre und zugleich eine tiefenpsychologische Studie über eine Mutter (Toni Collette), die sich in ihrer Trauer über den Verlust der Tochter in emotionalen Extremzuständen verliert. Die Erwartungen an Asters Nachfolgewerk waren also hoch. Dass er mit „Midsommar” nun so etwas wie eine  Ingmar-Bergmann-Version von „The Wicker Man“ (1973) abgeliefert hat, überrascht jedoch.

Was Hereditary und Midsommar eint, ist Asters Fokus auf Verlust, Trauer und eine weibliche Protagonistin. Im Mittelpunkt steht Dani (eine Offenbarung: Florence Pugh), deren Beziehung zu Christian (Jack Reynor) am Ende scheint. Während sie sich an den Anthropologiestudenten klammert, drängen ihn seine Freunde (Will Poulter und William Jackson Harper) doch endlich Schluss zu machen. Er solle sich stattdessen ein Mädchen suchen, das ihn nicht mit Problemen belastet und tatsächlich Lust auf Sex hat. Fast scheint Christian überzeugt, da ereignet sich eine schreckliche Tragödie in Danis Familie – und sie einen Zusammenbruch. Die Trennung ist damit erst mal auf Eis gelegt.

Ein halbes Jahr später erfährt Dani eher zufällig, dass ihr Freund mit seinen Kommilitonen und dem Austauschstudenten Pelle (Vilhelm Blomgren) bald für mehrere Wochen in dessen Heimat Schweden fliegen will. Dort stehen nach 90 Jahren wieder traditionelle Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende an. Dani schließt sich dem Männer-Quartett kurzerhand an. Angekommen in Skandinavien erscheint die abgelegene Siedlung Halsingland, in der Pelles Familie residiert, wie das Paradies auf Erden: In strahlendem Sonnenlicht tanzen weiß gekleidete Menschen im Kreis, stecken Blumenkränze und frönen Ritualen, die den Abschied vom Alten und den Beginn von etwas Neuem markieren. Und bisweilen erschreckend blutig ausfallen.

Der größte Horror ist der, der im Kopf des Zuschauers stattfindet. Das stellte Aster schon in Hereditary unter Beweis – in Midsommar geht der Drehbuchautor und Regisseur aber noch zwei bis fünf Schritte weiter. Nach einem finsteren, schockierenden Prolog wechselt der Film nicht nur die Lichtstimmung (der Großteil von Midsommar findet im Hellen statt), auch die generelle Tonlage verschiebt sich zugunsten einer subtileren Stimmung, die von einer beklemmenden Paranoia getragen wird und sich klassischen Horror-Sujets wie Dunkelheit, beengten Räumlichkeiten und Jumpscares bewusst verwehrt. Ähnlich wie es die (viel zu freundlichen) Einwohner von Halsingland mit Dani tun, umarmt der Film den Zuschauer mit einem wohligen Lächeln – nur um ihm unbemerkt die Krallen in den Rücken zu schlagen und die Wunden langsam aber stetig aufzureißen.

Dieses wachsende Unbehagen speist sich aus einer Flut visueller Andeutungen: Über Wandmalereien, Runen und Gemälde werden (äquivalent zu den Miniaturen in Hereditary) Entwicklungen und Schlüsselmomente der Handlung bereits lange im Voraus kommuniziert, Genre-Bewanderte können nach wenigen Minuten recht genau erahnen, wohin sich die Geschichte entwickelt. (Wer in den ersten 15 Sekunden aufpasst, kann aus dem kunstvollen Fresko zu Beginn von Midsommar gar bereits den kompletten Plot herauslesen.) Noch mehr als in seinem Erstling beweist Aster sein Können im Erzählen auf rein visueller Ebene und wird dabei durch die abermals fantastische Kameraarbeit von Pawel Pogorzelski flankiert, der jede Einstellung zu einem wahren Gedicht macht. Mit einer einzelnen Fokusverschiebung vermittelt der Pole zuweilen mehr, als manche anderer in einer kompletten Szene. In Verbindung mit der unheiligen Musikuntermalung aus der Feder von Bobby Krlic, der dissonante Streicher mit heidnischen Chorgesängen verknüpft, wird Midsommar zu einem der ästhetisch eindrücklichsten Filme der jüngeren Vergangenheit.

Unter dem Fokus auf die formalen Qualitäten leiden bisweilen jedoch die inhaltlichen. Die thematischen Ansätze des ersten Akts – Trauer, Verlust und deren Bewältigung – bleiben zwar immer präsent. Im Gegensatz zum geradlinigen Hereditary reißt der Mittelteil von Midsommar aber unerwartete bis abwegige Fragen an, etwa über Identität und Familie, kultische Dynamiken, den gesellschaftlichen Zweck von Ritualen oder die Genese sündhaften Begehrens, die jedoch alsbald versanden. Dass im Kern der schmerzhafte Trennungsprozess einer dysfunktionalen Beziehung porträtiert wird, stellt sich erst am Ende heraus. Asters Entwicklung ähnelt damit der von Jordan Peele, der seinem vielschichtigen, aber dennoch klassischen Horrorsteifen Get Out mit Wir ebenfalls ein deutlich kryptischeres, schwerer greifbares Werk folgen ließ. 

Ob sich der Regisseur mit all seinen Symbolismen, Themen und Referenzen am Ende nicht doch überhoben hat, muss jeder Zuschauer letztlich selbst entscheiden. Nicht bestreiten lässt sich, dass Midsommar mit einer Laufzeit von 147 Minuten streckenweise zur Geduldsprobe wird und deutlich zu lang ist. Allerdings: Dass es Aster trotz dessen sowie des Verzichts auf viele charakteristische Gerne-Elemente gelingt, eine kontinuierlich sinistere bis kafkaeske Stimmung zu halten, die mit bis zum Äußersten schockierenden Spitzen aufwartet, zeugt davon, dass der New Yorker ein tiefes Verständnis davon hat, wie filmischer Horror abseits von den Geisterbahnfahrten eines Annabelle 3 oder Lloronas Fluch aussehen kann. Und dass er zweifellos Talent dafür hat, dem Genre ganz neue Facetten abzuringen. Die Erwartungen an Asters nächsten Film dürften mit Midsommar jedenfalls nochmals größer werden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/midsommar-2019