John Wick: Kapitel 3 (2019)

Der Lone Wolf und das digitale Kino

Eine Filmkritik von Daniel Moersener

Standesgemäß für einen dritten Teil ist in „John Wick: Kapitel 3“ alles größer und weitschweifiger als in seinen Vorgängern: eine Produktion der Quantitäten, getarnt als Verheißung neuer Qualitäten. Notwendigerweise gehen damit Verschleißerscheinungen einher, bei der Hauptfigur und auch beim Zuschauer.

Es ist düster und regnerisch in New York City. Von Chinatown bis Spanish Harlem scheint jeder Auftragskiller von Format Jagd auf Keanu Reeves alias John Wick zu machen. Chad Stahelski, ehemaliger Stuntman und Regisseur der Trilogie um den alternden Hitman, wählt dazu von Beginn an die richtigen Bilder und entführt den Zuschauer in den von kalten Sturmböen durchpeitschten Big Apple und dessen Unterwelt der kaltblütigen Killer. Dabei greift Stahelski immer wieder auf Straßenzüge und Brücken zurück, die schon in Abel Ferraras Meisterwerk King of New York ihre volle Wirkung entfalten konnten und weckt damit große Erwartungen.

Sicher, John Wick hatte vor allen anderen Gegnern immer mit einer beachtlichen Hypothek auf der Story zu kämpfen. Der ganze überladene Hintergrund einer Parallelgesellschaft von Auftragskillern, die innerhalb ihrer eigenen ominösen Ehrvorstellungen, ökonomischen Beziehungen, Währungen und politischen Territorien agieren, droht den Blick aufs Wesentliche zu verstellen. Doch das Actionkino ist ein Genre von großer Kulanz. Ein angenehm missgelaunter Keanu Reeves auf Rachefeldzug wiegt eine Menge wieder auf.

Plötzlich, nach der ersten Stunde von John Wick: Kapitel 3, ereilt es den Zuschauer: Er fühlt, was John fühlt, er wird heimgesucht von einem nicht zu leugnenden Gefühl der Verdrossenheit, des Unmutes und der Erschöpfung. Das geschwinde Kämpfen und Schießen, das Messerwerfen und Fallen durch Glasscheiben fordern Tribut. Eine verrückte Zwickmühle ist das, in die der Film den Zuschauer nun manövriert hat. Nie zuvor konnte man den düster-dräuenden Blick Reeves‘ so sehr nachfühlen wie jetzt, nie zuvor war die Last auf John Wicks Schultern so spürbar. Als er den Wunsch äußert, nach Casablanca zu gehen, die Stadt New York zu verlassen, steigen unweigerlich Bilder vor dem inneren Auge auf, die noch größere Erwartungen wecken. Wird es Chad Stahelski nun allen zeigen, indem er Casablanca als altgedienten kinematographischen Nichtort und als wohlverdientes Domizil für Wicks Neuanfang anvisiert? Ich sehe Keanu Reeves schon durch Casablancas Cafes und Bars tingeln, vielleicht eine neue sehnsuchtsvolle Romanze beginnen, vielleicht hier und da ein paar Unholde bezwingen, doch mehr aus Muße, denn aus Pflicht. Stattdessen wirkt der ganze Marokko-Mittelteil des Films schlichtweg deplatziert. Warum sich Stahelski dazu entschieden hat, bleibt ein Rätsel, rückt er doch völlig aus dem Fokus, was den Film in seinem Innersten umtreibt.

Es gibt in der ersten halben Stunde von John Wick: Kapitel 3 eine Szene, die den eigentlichen Kern des Films erfasst. Vor seinen Verfolgern Schutz suchend, sichtlich lädiert, die Handknöchel aufgeplatzt, schleppt sich der einsame Keanu Reeves in das als Tarkovsky-Theater getarnte Hauptquartier russischer Gangster. Das auf dem Billboard veranschlagte Stück nennt sich A Tale of Two Wolves. Die Matriarchin des Clans überwacht gerade die Ballettprobe, bei der eine durch exzessives Proben in Mitleidenschaft gezogene Ballerina Pirouetten drehen muss, obwohl sie sich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Das Clan-Oberhaupt dirigiert die Tänzerin weiter und fordert Wiederholung um Wiederholung, bis die Erschöpfte schließlich auf der Bühne zusammenbricht. In dieser Sequenz finden sich Wunsch und Problematik der Reihe ineinander verschlungen.

Der Actionfilm ist immer ein Körpergenre gewesen, dessen Bewegungsmodi dem Tanz entstammen. Schon Buster Keaton, der legitime Begründer des Actionkinos, schulte sich einerseits am Tanztheater des Varietés und machte darüber hinaus seinen Namen gleich zum Modus Operandi seiner Filmästhetik. Der athletische Buster vollführte waghalsige artistische Tänze durch Kollisionen, Explosionen und Verfolgungsjagden hindurch. Die exzessiven Wirbelstürme der Projektile und schwerelosen Menschenkörper in den Filmen John Woos werden zu Recht als Bullet Ballet bezeichnet. Auch in Stahelskis erstem Teil John Wick aus dem Jahr 2014 fand die spektakulärste Schießerei auf dem Dancefloor einer Diskothek statt.

Die Helden der Actionfilme überschreiten also die physikalischen Gesetzmäßigkeiten des eigenen Körpers, ringen ihm wie Tänzer und Akrobaten völlig neue Bewegungsqualitäten ab, die mit unseren alltäglichen Bewegungsabläufen brechen. Auch die physikalische Umwelt der eigensinnig-tänzerischen Actionhelden, die sie umgebenden Objekte und bisweilen das Narrativ des Films selbst machen eine Transformation durch. Ihren gravimetrisch, sozial oder ökonomisch angestammten Bahnen enthoben, bewegen sie sich plötzlich frei und können neu angeordnet werden. Darin liegt auch die politische Spitze des Actionfilms, der nach Marx die Verhältnisse zum Tanzen bringt, indem er ihnen die eigene Melodie vorspielt. Man denke etwa an das explosive Finale von Sam Peckinpahs The Wild Bunch und Michelangelo Antonionis Zabriskie Point. John Wick: Kapitel 3 dagegen verfängt sich in Bewegungsmodi, die immer eingeschliffener, schließlich repetitiver und zuletzt ermüdend werden.

Der Reiz der Figur John Wick lag einmal darin, dass der in die Jahre gekommene Hitman seiner eigenen physischen Verfassung und der seiner Gegner ein wundersames Schnippchen schlagen konnte. Hier leistet John Wick hingegen pflichtschuldige Akkordarbeit, statt ungeahnte Tanzfiguren hinzulegen. Das Finale ist eine endlose Reihung zuvor bereits dutzendfach angewendeter Handgriffe vor einer Kulisse digitaler Fernsehbildschirme, über die gleißende Farbverläufe flirren oder zur Abwechslung auch eine Uhrenwerbung. Kunstblut vergießt hier niemand, das ist ebenfalls digital eingefügt und folglich in dem Maße affizierend wie eine Tasse entkoffeinierter Kaffee. Selbstredend darf John Wick am Ende des Films nicht nach Casablanca entfliehen, um sich in süßem Müßiggang zu üben. In Zeiten, in denen Fernsehserien ihre Episoden zu Spielfilmlänge strecken und jeder Kinofilm droht, zur Fernsehserie zu verwachsen, kommt auch John Wick nicht ohne angedeutete Fortsetzung davon.

Das ist das Tale of Two Wolves, in deren Zweikampf der Film letztlich unterliegt: die Digitalismen des Kinos sind des Kinos Wolf.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/john-wick-kapitel-3-2019