Germania (2018)

Welcome to Retropia

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Retropia lautet der Titel der letzten Publikation des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman. Dieser Begriff, den der Münchner Filmemacher Lion Bischof im Presseheft seines aufregenden Langfilmdebüts "Germania" zitiert, umschreibt im Grunde mit einem einzigen Wort die seltsam rückwärtsgewandte und im Wortsinn exklusive Lebens- und Wertegemeinschaft des Germania Corps, das in der Münchner Stollbergstraße in einer Gabriel-von-Seidl-Villa residiert und trotz aller selbst angepriesenen Internationalität vor allem in seiner eigenen Gesellschaftsblase lebt.

„Für Ehre und Freundschaft“ lautet nicht umsonst der oberste Wahlspruch jener schlagenden Verbindung, die seit 1863 besteht und zu der unter anderem auch ein architektonischer Feingeist wie Gabriel Ritter von Seidl als Mitglied zählte, aber auch Ex-ADAC- oder I.G. Farben-Vorsitzende ab den 1930er Jahren. Zudem herrscht bei allen ritualhaft inszenierten Veranstaltungen selbstverständlich ein fest vorgegebener Dresscode, inklusive eines dreifarbigen Bandes. Weibliche Wesen sind in dieser auf Männlichkeits- und Hierarchiegebaren fußenden Studentenverbindung naturgemäß ausgeschlossen. Als Gäste mit langen Haaren und in konservativen Abendkleidern werden sie bei hausinternen Feierlichkeiten oder Tanzbällen scheinbar lediglich toleriert.

Überhaupt wirkt vieles hier im Tonfall und in seiner scheinbaren Unverrückbarkeit wie ein Blick in finsterste Kapitel des „langen 19. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm), in dem sich speziell auch im spät entstandenen Deutschen Reich von vornherein eine stark ausgeprägte Mixtur aus Patriotismus, Nationalismus und Chauvinismus breitmachte und Andersdenkende rasch ausgegrenzt oder gleich an den Pranger gestellt wurden, obwohl angeblich jeder „seine freie Meinung“ äußern darf, wie es einmal so zynisch-selbstentlarvend in Film heißt.

Speziell beim überaus spannenden Hineinhören in diese anfangs absolut hermetisch wirkende Parallelwelt, sei es bei offiziellen Tischrunden oder internen Sitzungsgesprächen, im täglichen Fecht- und Ausdauertraining oder bei einem gemeinsamen Ausflug nach Hamburg, spielt Lion Bischofs dokumentarischer Schlüssellochfilm ein ums andere Mal seine mächtige Stärke aus. Gerade weil in Germania dramaturgisch wie formal-ästhetisch mit Ausnahme des innovativen Sounddesigns überhaupt nichts künstlich aufgebauscht wird. Vielmehr vertraut Bischof zusammen mit seinem exzellenten Kameramann Dino Osmanovic der Wirkungsmacht seiner eigenen Bilder: bis hin zum abrupten Ende.

Gleichzeitig überraschen den Zuschauer die neun porträtierten Corps-Mitglieder zwischendurch immer wieder mit einer Reihe ausgesprochen desavouierender O-Töne, die dem Ansehen des umstrittenen Corps in der Öffentlichkeit keineswegs dienlich sein dürften und eh schon bestehende Vorurteile weiterhin tonnenweise zementieren. „Einkleiden für die Gleichschal... Gleichberechtigung!“, lautet einer dieser völlig indiskutablen Gesprächsfetzen. Und das Schlimmste dabei: jene nach eigenem Verständnis besonders „schneidigen“ Männer in teuren Polohemden oder kreuzbraven Wollpullovern wollen einmal die Elite dieses Landes bilden, was sie gegenüber der klug beobachtenden Kamera von Dino Osmanovic ohne Gewissensbisse exakt so formulieren.

Dabei wirken manche der begleiteten Corps-Angehörigen im ersten Moment nicht einmal ausgesprochen unfreundlich, nur eben so dermaßen einer anderen Epoche zugehörig und mit einem völlig reaktionären Weltbild, dass man es in Germania tatsächlich sehen und vor allem auch hören („Heil, Germania!“) muss, bis es einen gleich in mehreren Sequenzen erheblich gruselt. Natürlich benutzen die „Füchse“, so werden die Neulinge genannt, moderne Smartphones. Jeder lernt hier außerdem, sich auf dem Gesellschaftsparkett möglichst gepflegt-situiert auszudrücken. Und nicht wenige von ihnen sind Teil eines über Generationen hinweg mit dem Corps verbundenen Netzwerks. So weit – so vorhersehbar.

Was aber Lions Bischofs angenehm puristisch gestalteten Erstling Germania besonders sehenswert macht, sind einige Aussagen eher am Rande agierender Protagonisten, die sofort hängenbleiben. Denn die interessantesten dieser optisch erst einmal scheu-pausbäckig wirkenden jungen Männer reflektieren partiell durchaus selbstkritisch vor dem Kameraobjektiv mögliche Beweggründe für ihren Eintritt: „Wer gibt schon öffentlich zu, dass er ein Scheißleben hat?“, meint einer der Jüngeren. „Die meisten fühlen sich größer als sie tatsächlich sind“, gesteht ein anderer, was nun so gar nicht zum eitel-überhöhten Selbstverständnis des Germania Corps passt.

Warum schließt man sich dann als junger Mensch überhaupt einem derartigen Lebensbund an? Brandl heißt einer von ihnen in Bischofs genau beobachtenden Film. Als höhersemestriger Student führt er jene „Füchse“ Stück für Stück an – und gleichzeitig ein in all diese merkwürdig Riten und Zeremonielle, die für Außenstehende ebenso bizarr wie weltfremd erscheinen. Obendrein setzt der hausinterne Codex des Münchner Corps von Beginn an auf Langfristigkeit und selbstredend halten im Hintergrund vor allem ältere Vertreter weitgehend die Fäden in der Hand, was ebenfalls nicht jedem jungen Menschen automatisch zusagen dürfte. Gerade durch diese offenen Leerstellen, die jeder Zuschauer für sich selbst beantworten muss, sticht Germania aus der Flut der wöchentlichen Kinostarts in all seiner Widerspenstigkeit positiv heraus.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/germania