Vier Minuten (2006)

Allegro con brio

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Am Anfang zieht eine Schar Zugvögel über den Himmel, eine pfeilförmige Formation auf ihrem Weg gen Süden – der Inbegriff der Freiheit. Als die Kamera dann aufzieht, sieht man, dass die Vögel gerade über ein Gefängnis hinweg ziehen, in dem die weiblichen Gefangenen wie Vögel in ihren Käfigen sitzen. Hier in diesem Knast sitzt Jenny (Hannah Herzsprung) ein, eine verurteilte Mörderin mit dem Hang zur Selbstzerstörung und zu jäh aufflackernden Gewaltausbrüchen. Was niemand im Gefängnis weiß ist, dass Jenny früher einmal als musikalisches Wunderkind galt, das einige Preise gewonnen hatte – damals, in einem anderen Leben. Durch einen Zufall wird die Musiklehrerin der JVA, die resolute Traude Krüger (Monica Bleibtreu), auf das Talent der Mörderin aufmerksam und entdeckt so etwas wie eine Lebensaufgabe darin, der Widerspenstigen Disziplin und Demut beizubringen und sie auf einen Musikwettbewerb vorzubereiten. Zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Frauen, der jungen Rebellin und der gestrengen Lehrerin entwickelt sich ein Zweikampf um Talent, Selbstaufgabe und Selbsterfüllung, der die Verhärtungen beider Seelen aufbricht. Und am Schluss sind es vier Minuten – die Zeit, in der Jenny vor einem fassungslosen Publikum ihr Klavierspiel zum Vortrag bringt – auf die sich dieser Film reduzieren lässt, ein emotionales Feuerwerk, wie man es in dieser Kraft, Wut und Unmittelbarkeit zuletzt in Gegen die Wand sehen konnte.

Wenn es an Chris Kraus emotional loderndem Film Vier Minuten überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann ist es die Wucht und vor allem Vielzahl an Emotionen und Motivationen, die die Geschichte in manchen Momenten beinahe überfrachtet erscheinen lassen – gerade so, als habe der Regisseur und Drehbuchautor beim Schreiben manchmal daran gezweifelt, ob die Grundkonstellation ausreichend trage. Im Nachhinein zeigt sich, dass diese Sorge unberechtigt war, denn neben der handwerklich präzisen Inszenierung mit passend eingesetzter rauer Optik (der Film wurde auf 16mm-Material gedreht und anschließend auf 35mm aufgeblasen, wodurch eine grobe Körnung erhält, die dem Film ausgezeichnet steht) und der berührenden Musik sind es vor allem die die beiden Hauptdarstellerinnen, die diesem Film sein ganz eigenes Feuer geben: So zweifelt man keine Sekunde lang daran, dass Monica Bleibtreu tatsächlich jener alte Drachen ist, den sie – mit fein eingestreuten Momenten der Schwäche und Verletzlichkeit – furios verkörpert. Und noch erstaunlicher ist Hannah Herzsprung in ihrer ersten Hauptrolle, die ebenso virtuos wie eine Klavierspielerin die fließenden Wechsel der Tonalitäten mit beängstigender Intensität spielt. Dies alles geht so scheinbar leicht von der Hand, dass kaum jemand einen Zweifel daran hegen mag, dass die Schauspielerin zugleich auch eine begnadete Pianistin ist – was aber nicht stimmt. Wie Hannah Herzsprung erzählt, hat sie beim Casting diesen Makel allerdings vor dem Regisseur verborgen und anschließend wie eine Besessene fünf Monate lang Klavierspielen geübt.

Manchmal kann also auch eine Lüge eine tiefer liegende Wahrheit transportieren. Und im Falle von Hannah Herzsprung besteht diese darin, dass dieser Film wie für sie gemacht ist. Insofern ist Vier Minuten gleich in mehrfacher Hinsicht eine außergewöhnliche und beeindruckende Talentprobe – für Jenny ebenso wie für ihre Darstellerin und nicht zuletzt auch für Chris Kraus, dessen kraftvollem Film möglichst viele Zuschauer zu wünschen sind.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/vier-minuten-2006