39,90 (2007)

Die Werbung ist ein lächelndes Aas

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Werbung ist ein lächelndes Aas - so lautet der Titel eines Buchs, in dem der Benetton-Fotograf Oliviero Toscani im Jahre 1996 radikal mit der Werbebranche abrechnete. Seitdem gilt der Fotograf, der mit seinen Bildern von AIDS-Kranken, von blutverschmierten Uniformen getöteter Soldaten und anderen Provokationen für Abscheu, Empörung und Begeisterung gesorgt hatte, als Querdenker (manchen auch als ausgemachter Heuchler), der Missstände wie Rassismus, Verlogenheit und Heuchelei innerhalb der Werbewirtschaft angeprangert hat. Auch wenn die Kritik an den Verheißungen von Werbebotschaften mindestens so alt ist wie die Werbung selbst: Erst seit Ende der Achtziger kommt es auch außerhalb akademischer Diskurse zu einer öffentlich geführten Auseinandersetzung mit den Strategien und Erscheinungsformen der Werbung – zumal deren Auftreten zunehmend aggressiver wird. So gibt es kaum ein Fußballstadion, das nicht den Namen eines finanzkräftigen Sponsoren trägt. Und in den USA sorgen Firmen an High Schools und anderen öffentlichen Einrichtungen dafür, dass ihre Slogans und Claims wirklich jeden Winkel des Lebens durchdringen.

Doch auch die Formen des Widerstandes nehmen zu: So hat sich beispielsweise eine Gruppierung namens "Adbusters" gegründet, deren erklärtes Ziel es ist, Werbung im öffentlichen Raum zu verfremden und diese so lächerlich zu machen und zu entlarven: "Wir sind ein weltweites Netzwerk von Künstlern, Aktivisten, Schriftstellern, Schelmen, Studenten, Pädagogen, Erziehern und Unternehmern, die die neue soziale Bewegung des Informationszeitalters voranbringen wollen. Unser Ziel ist der Sturz der bestehenden Machtstrukturen und einen deutlichen Richtungswechsel in unserer Lebensweise im 21. Jahrhundert zu bewirken“, so steht es im Manifest der Adbusters zu lesen. Wie sehr diese Gegenbewegung mittlerweile auf offene Ohren stößt, bewies auch der Roman 99 Francs (auf Deutsch lautet der Titel des Buchs 39,90) des ehemaligen Werbetexters Frédéric Beigbeder, der binnen kürzester Zeit zu einem Bestseller in Frankreich wurde und der auch in Deutschland Kultstatus erreichte. Kein Wunder also, dass die seit langem geplante Verfilmung des Romans bereits im Vorfeld für gespannte Erwartung sorgte. Eines vorweg – das Warten hat sich gelohnt, denn der Regisseur Jan Kounen hat sich weitgehend an den Tonfall des Buchs gehalten und zaubert kongeniale Bilder auf die Leinwand, die Beigbeders Zynismus in nichts nachstehen.

Octave Parango (Jean Dujardin) ist der Antiheld und das Alter Ego Beigbeders in Kounens Film, der gleich zu Beginn in heldenhafter Pose auf dem Dach eines Hochhauses steht und kurz davor ist, sich in die Tiefe zu stürzen – er hat’s versaut. Und dabei fing alles so verheißungsvoll an. Obwohl als jugendlicher Onanist mit Akne, vorstehenden Zähnen und einer dicken Brille der Marke Flaschenboden ausgestattet, schafft Octave den rasanten Aufstieg zu einem der Top-Texter der bekannten Werbeagentur "Ross & Witchcraft". Doch der Erfolg hat seinen Preis: Octave ist ein zynisches, unsympathisches und stets bis zum Kragenrand des Designerhemdes vollgekokstes Arschloch, das kaum zu einer menschlichen Regung, geschweige denn einer ernsthaften Beziehung fähig ist. Einzig mit dem Art Director Charlie (Jocelyn Quivrin) verbindet ihn so etwas wie eine Freundschaft, ansonsten gleicht sein Leben demjenigen des Agenturhamsters, der schließlich von Octave mit Koks ins Jenseits befördert wird. Drogenexzesse, rauschende Partys und jähe Abstürze sowie die alltägliche Frustration durch dumme Kunden, die stets die gleiche langweilige Werbung bevorzugen, statt sich auf die innovativen Konzepte der Agentur zu verlassen. Als seine schwangere Freundin Sophie (Vahina Giocante) ihn schließlich verlässt, dämmert es Octave, dass sein rasanter Lebensstil geradewegs in den Abgrund führt. Doch ein sanfter Ausstieg aus dem Hamsterrad der Werbung funktioniert nicht, weswegen er alles daran setzt, gefeuert zu werden. Zu diesem Zweck greift er zu allen denkbaren Mitteln...

39,90 / 99 Francs ist kein Film, der auf einhellige Begeisterung stoßen wird – so viel ist sicher. Mit seinen grellen Bildern in rasanter Clip-Ästhetik, dem ätzenden Spott, mit dem Beigbeder und Kounen die Werbebranche bombardieren, der Negierung jeglicher Moral und einer Hauptfigur, die überhaupt nichts Sympathisches an sich hat, provoziert der Film geradezu Widerspruch, fordert dazu heraus, ihn laut, gemein, abstoßend und verkommen zu nennen. Auch die Wahl der virtuos eingesetzten filmischen Mittel, die die Werbung mit ihren eigenen ästhetischen Waffen zu schlagen versucht, dürfte nicht jedermann gefallen.

Und doch, trotz aller Neigung zur hemmungslosen Übertreibung und zu manchem Bruch und der am Ende des Films doch etwas aufgesetzt wirkenden Moral: Wer die Branche kennt, weiß, dass hier lediglich auf die Spitze getrieben wurde, was in der Realität vorgefunden werden kann. Die Lügen, der Opportunismus, die Heuchelei und der alltägliche Rassismus der Werbung – sie sind da und haben längst ein unerträgliches Maß angenommen. Werbung, so drückt es Kalle Lasn, der Begründer der Adbusters in seinem Buch Culture Jamming aus, ist "das am weitesten verbreitete und stärkste aller mentalen Umweltgifte. Vom ersten Ton des Radioweckers am Morgen bis zu den frühen Morgenstunden des Nachtprogramms im Fernsehen strömt kommerzielle Verschmutzung in unser Gehirn, und das mit einer Geschwindigkeit von etwa dreitausend Marketingbotschaften pro Tag. Täglich werden etwa zwölf Milliarden Displayanzeigen, drei Millionen Radiowerbungen und mehr als zweihunderttausend TV-Werbespots im kollektiven Unbewusstsein Nordamerikas abgeladen."

Auch wenn es schwierig bis unmöglich sein dürfte, gegen den Moloch Werbung anzugehen und das richtige Maß zu finden, um die verlorene Balance wieder herzustellen: Es ist wichtig, dass es Filme und Bücher wie diese gibt, die auf meinetwegen übertriebene, vor allem aber deutliche Weise klar machen, wie sehr wir alle uns längst im Hamsterrad der Werbung bewegen und zu Tode hetzen. Es ist an der Zeit, dass wir uns dies bewusst machen. Was dagegen zu tun ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Die Auswege, die Octave am Ende bleiben, sind jedenfalls – das zeigt Kounen ebenfalls deutlich – nur Stilisierungen, die mit der Realität nichts zu tun haben und die sich aus den gleichen Sehnsüchten speisen wie die Traumbilder der Werbung. Der Kreis hat sich geschlossen, wir sind nichts anderes als Gefangene der Trugbilder, die wir selbst erschaffen haben.

Wie gesagt: Man muss den Film nicht mögen. Trotzdem - dies ist nicht nur ein guter Film, sondern vor allem ein enorm wichtiger.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/39-90-2007