Shahada

Ein Lehrstück über den Islam

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Berlin kann sehr klein sein. Das spürt man in diesen Tagen nicht nur am Potsdamer Platz, wo man ständig Leuten begegnet, die man kennt und mit denen man auf einen kurzen Plausch stehen bleibt, um dann zum nächsten Film, zum nächsten Event zu eilen. Auch im Wettbewerbsbeitrag Shahada des aus Afghanistan stammenden und in Deutschland aufgewachsenen Regisseurs Burhan Qurbani ist die Metropole bestenfalls ein größeres Dorf, in den sich immer wieder auf beinahe magische Weise die Lebenswege verschiedener Menschen kreuzen.
Im Wesentlichen fokussiert Shahada (der Titel des Films verweist auf das muslimische Glaubensbekenntnis) auf das Schicksal dreier junger Muslime in Deutschland. Da ist beispielsweise Bayram, die wir zuerst als lebenslustige Frau vorgestellt bekommen, die eine Pille schluckt, bevor sie in die Disco zum Abfeiern geht. Diese Pille, so erfahren wir später, war aber kein Rauschmittel, sondern eine Abtreibungspille, die allem Anschein nach drastischere und vor allem nachhaltigere Auswirkungen hat als jedes Produkt aus obskuren Drogenküchen. Durch die ziemlich blutige illegale Abtreibung mutiert die vormals liberale junge Frau, deren Vater zu allem Überfluss auch noch (ein selbstverständlich gemäßigter) Imam ist, zur glühenden Fanatikerin – und zwar binnen kürzester Zeit. Wenn da mal nicht Drogen im Spiel waren.

Seltsame Wandlungen durchlaufen auch die anderen beiden Protagonisten des Films: der aus Nigeria stammende Samir etwa kommt seinem Arbeitskollegen Daniel näher und hasst sich zugleich für seine verdrängte Homosexualität. Und Ismail, der letzte im Bunde, der als Polizist arbeitet, ist traumatisiert durch einen Vorfall vor drei Jahren, in dessen Verlauf eine Kugel aus seiner Waffe das ungeborene Kind einer jungen Frau tötete, mit der er sich nun trotz eigener Familie schicksalhaft verbunden fühlt. Im winterlichen Berlin kreuzen sich die Wege dieser drei Menschen und sämtlicher Nebenfiguren ständig und ergeben ein Kaleidoskop, in dessen Zentrum die berühmte Gretchen-Frage steht: "Wie hältst du es mit der (muslimischen) Religion?"

Zu Beginn entwickelt Shahada dank eleganter Kamerafahrten und der treibenden Musik mit Ethnotouch einen gewissen Sog und man ist durchaus gewillt, sich auf die verwickelte Konstruktion der Geschichte einzulassen, die zudem von diversen Zwischentiteln unterbrochen wird. Mit zunehmender Dauer aber drängt sich die andauernde Musikbeschallung doch sehr in der Vordergrund und lässt im Zuschauer den Verdacht keimen, dass hier auf akustischer Ebene etwas kompensiert werden soll, was der Filmemacher selbst an Mangel erkannt hat – den Mangel an Authentizität und Glaubwürdigkeit, die Plausibilität eines theoretischen Gerüsts, das sich thesenhaft an seinem Gegenstand abarbeitet und dabei zunehmend die Lebenswirklichkeit der Figuren aus den Augen verliert. Am Schluss sind sie nur noch Schachfiguren auf einem Spielfeld, dienen als Erläuterung von Thesen und Anprangerung von Missständen und verlieren damit alle zuvor mühsam erspielten Sympathien.

Und mal ehrlich: Dass eine junge lebenslustige und durch und durch liberale Türkin durch eine illegale Abtreibung binnen kürzester Zeit zur glühenden Fanatikerin wird, gehört sicherlich in die Vorstellungswelt politischer Hardliner. In einem Film, der vorgibt, sich ernsthaft und vorurteilsfrei mit dem Islam auseinander zu setzen, hat solch eine kühne Behauptung aber nichts verloren. Vielleicht wäre dieser formal durchaus elegante Film in der Reihe Perspektive Deutsches Kino besser aufgehoben gewesen. Feo Aladags Film Die Fremde jedenfalls besitzt als filmische Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit muslimischer Migrantinnen bedeutend mehr Relevanz und Sprengstoff als der überkonstruierte und überambitionierte Shahada.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/shahada