Brownian Movement (2010)

Stillstand und Bewegung

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie kann man das Unerklärliche erklären, wie das schildern, für das einem selbst die Worte fehlen? Als Charlotte von Ribbeck (Sandra Hüller) sich gegenüber einer Psychologin erklären soll, weicht ihr Blick immer wieder aus, geht nach unten, scheint irgendwo im unbestimmten Raum nach Gründen zu suchen oder überhaupt einmal nach Wendungen, die dem Ganzen gerecht werden. Vielleicht aber will sie auch gar nicht darüber reden, sondern hat sich darauf überhaupt nur eingelassen, weil ihr dieses Geheimnis jäh und durch einen dummen Zufall entrissen und ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde.

Das Gespräch bildet den Auftakt des zweiten Teiles des streng in drei Kapitel gegliederten Films. Der erste Teil erzählt davon, worüber Charlotte überhaupt sprechen muss: Die erfolgreiche Ärztin, die mit ihrem Mann, dem Architekten Max (Dragan Bakema) und dem gemeinsamen Sohn Benjamin (Ryan Brodie) in Brüssel lebt, hat sich eine kleine Wohnung gemietet, von der niemand etwas weiß. Dort empfängt sie Männer, die sie zuvor in ihrer Eigenschaft als Ärztin kennengelernt hat, und schläft mit ihnen, obgleich nichts darauf hindeutet, dass ihre Beziehung nicht glücklich sein könnte. Doch wer weiß das schon?

Die Männer, die sie trifft, sind weder attraktiv noch jung – im Gegenteil. Da ist einer, der recht beleibt und überaus behaart ist, ein anderer hat allem Anschein nach die Achtzig schon hinter sich gelassen. Was sucht diese Frau also in den Armen der Männer, die allesamt mindestens einen Makel aufweisen? Die Vermutung ist, dass sie dies selbst nicht weiß. Dann begegnet sie einem ihrer Liebhaber auf einer Baustelle und gerät in Panik, schlägt wie wild um sich, weil sie befürchtet, dass ihr Geheimnis, ihr paralleles Leben auffliegt. Was dann auch wirklich geschieht.

Max ist wie vor den Kopf gestoßen, er versucht zu begreifen und erhält doch von Charlotte keinerlei Hinweis darauf, was ihr fehlt. Für Charlotte kommt es noch schlimmer: Da ihre Liebhaber Patienten von ihr waren, wird sie vor ein ärztliches Gericht gezerrt und verliert ihre Approbation.

In dritten Teil des Films ist einiges an Zeit vergangen, Max und Charlotte leben gemeinsam mit Benjamin und einem vor vielleicht einem Jahr geborenen Zwillingspärchen nun in Indien, wo der Architekt eine Baustelle betreut. Doch die Verletzungen, die das Ereignis der Beziehung der beiden zugefügt hat, sind deutlich zu spüren, Max' Misstrauen erwacht erneut, als ihm eine Bedienstete gesteht, dass Charlotte fast jeden Morgen außer Haus geht. Eifersüchtig folgt er ihr...

Bei der diesjährigen Berlinale, deren Wettbewerb mit Verlaub wenig begeisternd war, spielten sich die Überraschungen in den Nebenreihen ab. Und Brownian Movement ist eine echte Überraschung - keine laut polternde, sondern eine, deren Wert sich erst langsam erschließt und manchem sicher verborgen bleiben wird: Kühl taxierend und dennoch voller verborgener Emotionen erzählt die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold in ihrem mittlerweile vierten Spielfilm (nach Îles flottantes, Guernsey und Wolfsbergen) von der Liebe und dem Begehren, von den Geheimnissen, die manche Menschen brauchen, von ihren verborgenen Leidenschaften und davon, was es bedeutet, wenn all das plötzlich in Frage gestellt wird. Das Faszinierende dabei ist die Gegensätzlichkeit, mit der Leopold das scheinbar Unvereinbare miteinander in Einklang bringt: In den bestechend realistischen, lichtdurchfluteten Bildkompositionen, in denen Rahmungen und Tiefenschärfen immer wieder neue Bildebenen erschließen, verbirgt sich ein Rätsel, eine Unergründlichkeit, eine Fragilität, ein Schweigen, das manches andeutet und noch viel mehr verbirgt.

Ihrer Hauptfigur gleich, die wir einmal über ein Mikroskop gebeugt bei der Arbeit sehen, arbeitet Nanouk Leopold wie eine kühl-analytische Forscherin ihre Versuchsanordnung über Liebe, Beziehung und Einsamkeit ab. Dazu überaus passend gewählt ist auch der Titel des Films, der sich auf die "Brown'sche Molekularbewegung" bezieht – jene für das bloße Auge unsichtbare Bewegung, jenes Vibrieren der Atome und Moleküle, das in früheren Zeiten zu der Annahme verleitete, die Materie sei von einer geheimnisvollen Lebenskraft erfüllt. Auf den ersten Blick scheinen die Menschen, von denen der Film erzählt, still zu stehen. Doch betrachtet man sie unter dem mikroskopischen Blick der Regisseurin, nimmt man die chaotischen Zick-Zack-Bewegung wahr, ihr Vibrieren, das Bewegung und Stillstand zugleich ist, Auf-der-Stelle-treten und Fluchtversuch in einem, Suche nach Identität mit den dunklen, unerklärbaren Anteilen der Seele und Unfähigkeit zum vollkommenen Aufgehen im Anderen.

Dass der Film so viel im Unklaren lässt, ist seine große Stärke und zugleich seine größte Schwäche. Das Experiment, das Nanouk Leopold arrangiert hat, zeitigt keine Ergebnisse, sondern birgt höchstens Näherungswerte in sich, über deren Relevanz und Beständigkeit sich streiten lässt.

In seiner strengen Kühle, seiner elliptischen und fragmentarisierten Erzählweise, seinen klaren Bildern, die immer wieder in Richtung Abstraktion streben, ist Brownian Movement ein Film, der entfernt an die so genannte Berliner Schule erinnert. Und als ein Werk von beinahe schon erhabener Künstlichkeit und hoher Kunstfertigkeit wird er sein Publikum spalten, so viel steht fest.

Über eines aber lässt sich nicht streiten: Brownian Movement ist ohne jeden Zweifel ist eine sehr radikale und freie Kinoerfahrung, die lange nachwirkt und deren Ergebnisse und Erkenntnisse man auf den einzelnen Zuschauer unmöglich voraussagen kann. Ein Experiment mit völlig offenen Ausgang – genau wie das Leben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/brownian-movement-2010