Versicherungsvertreter - Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker (2011)

Gier frisst Hirn

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Mit zweiundzwanzig erst aus dem Kinderzimmer in der elterlichen Wohnung ausgezogen, in dem er die eigene Firma gründete. Mit zweiunddreißig schon insolvent und 21 Millionen Euro Schulden. Dazwischen liegt "die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker", so der Untertitel des Dokumentarfilms Versicherungsvertreter. Regisseur Klaus Stern hat vorher Filme wie Weltmarktführer – Die Geschichte des Tan Siekmann (2004) und Henners Traum – Das größte Tourismusprojekt Europas (2008) gemacht und bezeichnet Größenwahn als sein Spezialgebiet. Diesbezüglich ist er nun bei Mehmet E. Göker wieder genau an den richtigen Mann geraten. MEG (genau, benannt nach seinen Initialen) heißt die Firma, die er nach seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann gründete, denn schließlich wollte er mehr als "nur einen Krümel vom Kuchen abhaben". Und tatsächlich: mit 25 hat er mit dem Vertrieb privater Krankenversicherungen am Telefon seine erste Million gescheffelt. Die Firma wächst, der Umsatz steigt, neue Mitarbeiter werden angeworben, großzügige Provisionen werden in Aussicht gestellt und auch gezahlt, verschwenderische Incentive-Reisen wie z.B. zum Luxus-Shopping erster Klasse bei Armani und Gucci in New York gehören zu den kleinen Annehmlichkeiten für die besten Mitarbeiter, der Fuhrpark besteht aus Porsches und Ferraris und die Jubel-Veranstaltungen zur Ehrung erfolgreicher Mitarbeiter stellen in ihrem megalomanischen Pomp und auch in ihrer Länge die Oscar-Verleihung in den Schatten – wie Firmenvideos dokumentieren.

Filmemacher Klaus Stern greift bei seiner Erkundung des Phänomens Mehmet E. Göker auf eine ganze Fülle von Material zurück, seien es firmeninterne Videos, Handyaufnahmen von Mitarbeitern, oder zugekauftes Material von Fernsehsendern. Schon seit 2006 war er an dem Thema dran, hat auch Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern gedreht und schließlich auch Göker selbst für ein paar Drehtage vor die Kamera bekommen. Zu diesem Zeitpunkt ist der Versicherungsmakler allerdings längst pleite und muss sich wegen Veruntreuung und Insolvenzverschleppung vor Gericht verantworten. Das System seines Strukturvertriebs ist schon 2007 ins Wanken geraten, als Göker wegen des Verdachts der Scheinselbstständigkeit seiner riesigen Mitarbeiterschar und Steuerhinterziehung ins Visier des Finanzamts gerät.

Die große Stärke des Film liegt darin, dass er die Ereignisse nicht chronologisch aufrollt, sondern in einer Dramaturgie der Zuspitzung sein vielfältiges Material clever ins Spiel bringt, erzählerische Bögen schlägt und die Eindrücke zum richtigen Zeitpunkt ausreizt. Mehmet E. Göker ist das zentrale Kraftfeld des Films, ein hyperaktiver, ständig Phrasen dreschender und Mitarbeiter zusammenstauchender Alleinherrscher in seinem Imperium von speichelleckenden Gefolgsleuten auf schnellem Erfolgskurs, die sich auch mal eben das Firmenlogo für die Ewigkeit aufs Handgelenk tätowieren lassen, wenn der Chef das vormacht. In diese Maschinerie der geldgeilen Verblendung streut Stern mehrere ehemalige Mitarbeiter und Aussteiger ein, denen die Erfahrung zwischenzeitlich die Augen geöffnet hat. Da ist der Leibwächter, der sich nun das Tattoo überstechen lässt und andeutet, dass bei der überbordenden Begeisterung, mit der ständig der Erfolg abgefeiert wurde, auch Drogen im Spiel waren. Und da ist der Ex-Fußballprofi Zoran Zeiljko, der anfänglich vom Geschäftsmodell überzeugt war und dann dem Strukturvertrieb den Rücken kehrte, abgestoßen durch die sektenähnlichen Umgangsformen und den Personenkult um Göker. Zeiljko bringt es in der simplen Formel auf den Punkt: "Gier frisst Hirn", auch das des Chefs; auch das des Ferrari-Händlers, der die Warnlampen, die bei ihm angingen, als der "gute Kunde" Göker nicht pünktlich zahlte, nicht sehen wollte; und auch das der großen privaten Krankenversicherer (die sich für den Film nicht zur Thematik äußern wollten), die der MEG immer weiter hohe Vorschüsse gezahlt haben, auf Vertragsabschlüsse, die in dieser Menge unmöglich zu leisten waren.

Das System hat sich selbst verschlungen. Aber Mehmet E. Göker hat es wieder ausgespuckt. Er residiert an der türkischen Ägäisküste und macht schon wieder dieselben Geschäfte, nur unter anderem Namen. Die "Göker Consulting Group" gehöre seiner Mutter, er selbst sei dort nur Angestellter. Und für einen weiteren Film von Klaus Stern würde er auch zur Verfügung stehen – dieses Angebot machte Mehmet E. Göker, ohne den ersten Film überhaupt gesehen zu haben. Die Premiere im Rahmen des Deutschen Wettbewerbs Dokumentarfilm in Leipzig fand auch ohne ihn statt: Wichtige Geschäfte in Istanbul hielten ihn ab, so ließ er verlautbaren.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/versicherungsvertreter-die-erstaunliche-karriere-des-mehmet-goeker