Oh Boy (2012)

Du bist verrückt, mein Kind, du musst nach Berlin...

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Tausend Euro überweist der Vater monatlich, dabei hat Niko schon vor zwei Jahren sein Jurastudium geschmissen. Jetzt hängt er so rum, "ich hab nachgedacht", sagt er, zwei Jahre lang, ohne etwas zu tun. Der Vater jedenfalls sperrt ihm das Konto, und provoziert ihn zu einem Golfschlag: "Stell dir einfach vor, du würdest mir eins überziehen." Immerhin springen bei der Begegnung mit dem Vater zwei Schnäpse raus. Nikos Suche nach Kaffee geht weiter.

Niko ist ein Slacker in Berlin, der nichts mit seinem Leben anfangen kann und nicht mal weiß, wo er die Suche nach Leben beginnen soll. Er streift durch die Stadt, hat verschiedene Begegnungen, mit einem Nachbarn, einem Psychologen, auf einem Filmset und einer Offtheater-Performance. Kaffee scheint ausgegangen zu sein – ist das das Einzige, was er will?

Oh Boy von Jan-Ole Gerster hat zwei entscheidende Qualitäten – neben dem reihenweisen Auftreten von Gaststars in hervorragenden Rollen, die normalerweise als Scene-Stealer durchgehen würden, wäre nicht auch Tom Schilling in der Hauptrolle so präsent in seinem treibenden Nicht-Sein, in seiner ständigen Nicht-Anwesenheit, in seiner Rolle als Drifter Niko, der Katalysator und Projektionsfläche für die episodischen Szenen ist.

Der Film ist urkomisch. Einzelne Szenen haben die Güte perfekter Sketche, mit perfekt besetzten Charakteren, pointierten Dialogen, komikdramaturgischem Aufbau und am Ende einer klug gesetzten Nicht-Pointe. Der Idiotentest bei der Begutachtungsstelle für Fahreignung: Ein Psychologenarschloch mit suggestiven Fragen, mit einer Art routinierter Foltermethode persönlichster Erkundigungen. "Sind Sie schwul? Haben Sie Minderwertigkeitskomplexe, weil Sie so klein sind?" Und Stempel drauf, abgelehnt, die persönlichen Verhältnisse, sie sind nicht so. Der aufdringliche Nachbar mit ungenießbaren Fleischbällchen, den Justus von Dohnanyi neugierig und einsam spielt, inklusive Weinkrampf. Später sieht man ihn gegen sich selbst Kickerspielen im Keller. Ulrich Noethens Vater, ein aufgeblasener Geldsack, strotzend vor plakativer Enttäuschung über den missratenen Sohn. Die Fahrbahnkontrolleure, Martin Brambach als unnachgiebiger Unmensch und RP Kahl als hitzköpfiger Doofkopp, der ihm alles nachplappert, oder Frederick Lau als jugendliches Straßenkid zwischen saudoofer Anmache und hochdosiertem Alkohol. Dazu Nikos Kaffeesuche – nicht leicht bei einer Riesenauswahl und Mondpreisen im Coffeeshop, kaputten Kaffeeautomaten und immer falschen Tageszeiten: Oh Boy ist eine leichtfüßige, kluge, alberne, satirische, treffende Komödie.

Und: Oh Boy ist in schwarzweiß und mit Jazz unterlegt, Hinweis auf die existentialistische Ebene, die seine zweite Qualität darstellt. Wie Niko mit Matze rumzieht, einem Schauspieler, der niemals auf einen grünen Zweig gekommen ist, mit diesem den Dreh eines furchtbaren Nazischinkens besucht, Drogen kauft bei einem abgefuckten Kid mit unglaublich lieber Oma (und superbequemem Massagesessel) und eine Tanztheaterperformance besucht: Alle, die Niko begegnen, sind Drifter wie er, haben kaum was vom Leben, nichts Echtes, nichts Wahrhaftiges zumindest. Und hängen an dem Strohhalm, der sie vorm Untergang bewahrt. Der Theaterregisseur flippt aus, wenn man sein Stück nicht so versteht wie er selbst; Matze wartet auf die perfekte Rolle, die nie kommen wird. Und Julika, eine alte Schulfreundin, der sie zufällig begegnen, lässt sich gar nichts mehr gefallen, bis zum Zustand der Hysterie. Ihr Background ist unglaublich tragisch, als Kind fett, verspottet, gedemütigt bis zum Suizidversuch, hat sie sich gefangen und hängt doch am seidenen Faden.

Höhepunkt des Films ist eine Kneipenbegegnung mit einem alten Mann, Michael Gwisdek, der eine wirklich eindringliche Geschichte von der Geschichte erzählt, von vor 60 Jahren, inklusive weitschweifigen Hitlergrüßen, tragikomischer Attitüde und tragischem Abgang. In solchen Szenen gelingen Gerster intensive Momente, die – und das ist ein Kunststück für sich – unbeschadet neben dem Witz bestehen können. Am Ende steht immerhin ein kleines Happy End: eine große Tasse Kaffee.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/oh-boy-2012