Zwei Tage, eine Nacht

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine ganz einfache Geschichte

Die Rahmendaten der Geschichte, die die beiden belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem unverwechselbaren, nur scheinbar schmucklosen und reduzierten Stil eines „sozialen Realismus“ erzählen, sind schnell wiedergegeben. Da ist Sandra (Marion Cotillard), die an einem Freitag von einem Problem erfährt, das sie binnen kurzer Zeit lösen muss: Da es der Firma, in der sie arbeitet, schlecht geht, steht ihr Rauswurf unmittelbar bevor. Vom Vorarbeiter ihrer Abteilung unter Druck gesetzt, haben sich ihre Kollegen, vor die Wahl gestellt, ihren Bonus von 1.000 Euro zu verlieren, für das Geld entschieden anstatt für Sandras Verbleib. Dass Sandra vor einiger Zeit an Depressionen litt und deshalb eine Weile nicht wirklich arbeitsfähig war, dürfte vielleicht auch eine Rolle gespielt haben.
Dann aber passt Sandra gemeinsam mit einer Kollegin einen der Verantwortlichen auf dem Parkplatz der Firma ab und der gesteht ihr eine neue Chance zu: Weil der Vorarbeiter mit falschen Karten gespielt und die Belegschaft bewusst unter Druck gesetzt hat, soll es am Montagmorgen eine neue Abstimmung geben. Ihr bleiben also zwei Tage Zeit, um ihre Kollegen von der Notwendigkeit zur Solidarität um den Preis des eigenen Verzichts zu überzeugen. Unterstützt wird sie bei diesem Spießrutenlauf von ihrem Mann Manu (Fabrizio Rongione), der seine zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankende und labile Frau immer wieder aufzumuntern und zu motivieren versucht. Denn wie sie weiß auch er ganz genau, dass es ohne Sandras Gehalt vorne und hinten nicht reicht und die Hypothek für das bescheidene kleine Haus nicht abbezahlt werden kann. Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des sozialen Abstiegs.

Nicht 14 Stationen sind es, die Sandra durchlaufen und durchleiden muss wie beim christlichen Kreuzweg, sondern 16 — 16 Kollegen, bei denen sie am Wochenende aufkreuzen muss und sie um etwas bitten. Und fast alle haben gute Gründe, dann doch lieber zuerst an sich selbst zu denken, denn auf Rosen gebettet ist keiner von ihnen. Und so reagieren sie alle ganz unterschiedlich auf die verzweifelte junge Frau, die da unvermutet vor ihnen steht und die eine der ihren ist: Mal ablehnend, mal voller Scham, dann wieder bestimmt, brüsk und aggressiv, dann wieder lässt sich jemand verleugnen, versucht irgendwie den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Die Dardennes schauen sehr genau hin beim Martyrium ihrer Heldin, so wie sie das immer tun. Doch es ist kein Voyeurismus zu spüren, sondern wie immer die Sympathie für die ganz normalen und alltäglichen Probleme der kleinen Leute, die sich abstrampeln müssen, um zumindest den Status Quo aufrecht erhalten zu können. Ebenfalls wie immer ist diese Geschichte, die vor allem durch ihre stille Kraft und Einfachheit fesselt, zwar sehr genau und präzise mittels kleiner Details in ein genau definiertes Milieu eingebettet, doch zugleich weisen die beiden Filmemacher mit ihrem neuesten Werk weit über das Konkrete und Unmittelbare hinaus. Die Entsolidarisierung, wie sie sie zeigen, ist längst Teil unseres Alltags: In allen Ländern, allen Schichten, allen sozialen Gruppen und Milieus. Das ist die Realität des Postkapitalismus — und die Dardennes geben dieser Realität abermals ein Gesicht und eine Stimme. Es bleibt zu hoffen, dass diese Stimme Gehör findet.

Zwei Tage, eine Nacht

Die Rahmendaten der Geschichte, die die beiden belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem unverwechselbaren, nur scheinbar schmucklosen und reduzierten Stil eines „sozialen Realismus“ erzählen, sind schnell wiedergegeben. Da ist Sandra (Marion Cotillard), die an einem Freitag von einem Problem erfährt, das sie binnen kurzer Zeit lösen muss: Da es der Firma, in der sie arbeitet, schlecht geht, steht ihr Rauswurf unmittelbar bevor.
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Meinungen

icke · 11.11.2014

Das ist ein wirklich großartiger Film der Dardenne-Brüder. Schön, dass es immer noch Menschen gibt, die an Solidarität glauben.

Hartmut T. · 06.11.2014

15 (oder 16 oder 17, vielleicht sogar 18?) Variationen zu den Themen Solidarität, Streben nach Glück, Verzicht, Freude spenden, Egoismus und und und ... Nach anfänglicher Enttäuschung nach dem Anschauen des Filmes muss ich sagen: Er hat bei mir einen Eindruck hinterlassen und wirkt nach wie der Abgang eines Weines, nur länger. Zu Beginn war ich von Sandra genervt, Die Reaktionen ihrer Kollegen auf Sandras Bitte sind mehr oder weniger vorhersehbar - die Zahl der Argumente dafür oder dagegen ist ja von vornherein sehr eingegrenzt. Daher scheint die Handlung nahezu steigerungslos vor sich hin zu plätschern. Bis kurz vor dem Ende des Films.
Die Art, wie die Dardennes das Thema präsentieren, kommt wahrscheinlich am besten bei den Menschen an, die selbst schon eine ähnliche Situation erlebt haben. Die Regisseure bleiben auf einem realitätsnahen Pfad, mit Ansätzen der Verwendung dokumentarischer Stilelemente. Ken Loach hätte vielleicht etwas Humor reingebracht, dann wäre die Nachwirkung aber wahrscheinlich weniger intensiv.